Auf der Straße wirft sich ein dreijähriger Junge auf den Boden und brüllt aus Leibeskräften. Die Mutter, das Fahrrad in der Hand, bittet das Kind, mit nach Hause zu kommen. Das Kind brüllt weiter. Ringsherum schauen die Leute betreten weg. In einigen Häusern werden die Fenster geschlossen. Inzwischen kniet die Mutter auf dem Gehweg und redet beharrlich auf das Kind ein. Das Kind brüllt weiter. Sein Kopf ist mittlerweile so rot wie ein Ballon. Selbst der Zeitschriftenladen macht seine Tür zu, weil das Geschrei unerträglich ist. Die Mutter ist machtlos.
Kindererziehung ist ein ewiges und wohl auch nie zu schlichtendes Streitthema. Bereits in der Antike haben die Menschen darüber geklagt, dass die Kinder „heutzutage“ angeblich nicht mehr richtig erzogen würden! Doch gibt es einige bedenkliche Phänomene in der modernen Erziehung, die unverkennbar sind – auch wenn sie lange nicht für alle Kinder beziehungsweise Eltern gelten. Das behauptet zumindest Emma Jenner.
Emma Jenner ist Erziehungsexpertin und vor allem bekannt durch die Fernsehsendung „Take Home Nanny“, eine US-amerikanische Version des Formats „Die Super Nanny“. In ihrem Buch „Keep Calm and Parent On“ (zu Deutsch: „Bleibe ruhig und erziehe weiter“) nennt sie fünf Gründe, weshalb die gegenwärtige Kindererziehung in der Krise steckt:
1.) Wir sind keine „Dorfgemeinschaft“ mehr
Man braucht sich nur alte Kinderfilme anzuschauen: Da wurden Kinder von der Putzfrau am Ohr gezogen, vom Busfahrer angeschnauzt, und der Hausmeister hat die weggenommenen Fußbälle im Keller gehortet. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Auf der anderen Seite gibt es keine „Gemeinschaft der Erwachsenen“ mehr, in der die gleichen Werte in der Erziehung geteilt werden. Niemand traut sich mehr, etwas zu sagen, wenn sich Kinder unmöglich benehmen. Im Gegenteil: Schimpft der Lehrer, muss er mit gewaltigen Vorhaltungen der Eltern rechnen! Auf der anderen Seite bleiben Väter und Mütter mit ihrer Erziehung auch allein. Sie sind verunsichert, wenn das Kind an der Supermarktkasse einen Aufstand macht. Denn anstatt bei der Zurechtweisung des Trotzkopfs Unterstützung zu erhalten, ernten sie lediglich vorwurfsvolle Blicke.
2.) Wir nehmen zu viel hin
Kinder machen Fehler und stören ab und zu. Das gehört dazu. Kinder müssen nicht perfekt sein. Aber, so stellt Emma Jenner fest: Immer mehr Eltern nehmen schlechtes Benehmen einfach hin, selbst wenn sie selbst oder andere darunter leiden: „So sind Kinder eben“, sagen sie. Mit diesem Argument verabschiedet man sich jedoch von der Verantwortung, zu erziehen. Kinder sind fähig zu lernen, sagt Jenner, und zwar mehr, als viele Eltern glauben. Dazu gehören auch Manieren und Respekt gegenüber anderen – man muss diese Dinge Kindern jedoch beibringen.
3.) Wir nehmen zu oft die Abkürzung
Um möglichst jedem Gezeter aus dem Weg zu gehen, sind moderne Mamas und Papas für jede Gelegenheit gewappnet: Hat der Sprössling Hunger, ist die Vesperbox sofort zur Hand. Bei Autofahrten hört die ganze Familie (oft nervenstrapazierende) Kinderlieder rauf und runter, und sobald die Kleinen im Restaurant zu nörgeln beginnen, wird die Wartezeit mit lustigen Videos auf dem Tablet verkürzt. In etlichen Situationen mögen solche Hilfsmittel überlebensnotwendig sein. Doch, so fürchtet Emma Jenner, wenn wir unsere Kinder stets beim kleinsten Zucken „ruhigstellen“, lernen diese nicht, sich auch einmal gedulden und benehmen zu müssen. Wie mit dem Sturzhelm beim Schlittenfahren, der heute in manchem Kindergarten Pflicht ist, wollen wir unsere Lieblinge vor allen negativen Erfahrungen bewahren. Das Kind lernt auf diese Weise aber auch nicht, Unangenehmes zu überstehen und an Schwierigkeiten zu wachsen.
4.) Wir haben Angst vor unseren Kindern
Kinder sollen heute mitentscheiden. Ihre Meinung wird ernstgenommen. Dadurch sollen sie zu selbstbewussten Menschen heranwachsen, die eigenständige Entscheidungen treffen können. Das ist wichtig in einer Welt, in welcher Gehorsam und Unterordnung immer weniger gebraucht werden. Zur gleichen Zeit ist das Leben heutiger Kinder vollständig durchorganisiert: Von der Kita bis zum Schulabschluss befinden sich die Kleinen in Bildungseinrichtungen; nachmittags geht es weiter: Nachhilfe, Sport, Musikschule. Viele Eltern fürchten (womöglich zu Recht), dass unter diesen Bedingungen die Bindung zu ihrem Nachwuchs leidet. Sie haben ein schlechtes Gewissen. Die Folge ist, dass die Eltern den Wünschen ihres Dreikäsehochs allzu schnell nachgeben. Als wären sie ewig Säuglinge, wird jedes Bedürfnis der Kinder prompt befriedigt. Damit wachsen aber nur die Ansprüche der Kleinen und die Überforderung der Großen.
5.) Wir vernachlässigen unsere eigenen Bedürfnisse
Emma Jenner hat grundsätzlich Verständnis dafür, dass Kinder im Zentrum des Familienlebens stehen. Dies sei schließlich durch die Evolution so vorgegeben. Aber Jenner bemerkt häufig, dass es einige Eltern damit übertreiben – und sich sowie ihr Eheleben vernachlässigen. Daher fordert sie Eltern dazu auf, sich auch Zeit für sich selbst zu nehmen. Kinder können lernen, dass ihre Eltern eigenständige Menschen mit eigenen Wünschen sind. Lernen sie das in Bezug auf ihre Eltern, können sie später auch rücksichtsvoll mit ihren Mitmenschen umgehen.
Die Meinungen zu solcherlei Erziehungstipps gehen weit auseinander. Die Vorstellung, die manche „Fernseh-Nanny“ vermittelt, man könne sämtliche Probleme nur mit dem Drehen an wenigen Stellschrauben in den Griff bekommen, ist unrealistisch. Als Unbeteiligter sieht immer alles ganz leicht aus, aber jede Familie, jedes Kind ist anders. Eltern geben ihr Bestes. Wer da ungefragt von außen Ratschläge erteilt, ist schlicht respektlos. Gleichwohl macht Emma Jenner auf Punkte aufmerksam, über die es sich nachzudenken lohnt. Teile deine Meinung zu diesem Thema auf Facebook!