Aserbaidschan plant friedliche Wiedereingliederung von Bergkarabach

22.09.2023 12:55

In Bergkarabach schweigen die Waffen. Nun will Aserbaidschan die von Armeniern bewohnte Region wieder eingliedern.

Nach dem vorläufigen Ende der Kämpfe in der umstrittenen Kaukasus-Region Bergkarabach strebt Aserbaidschan nach eigenen Angaben eine "friedliche Wiedereingliederung" des mehrheitlich von Armeniern bewohnten Gebiets in sein Territorium an. Es sei Baku gelungen, nach seinem Militäreinsatz gegen pro-armenische Kämpfer die "Souveränität wiederherzustellen", sagte der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew am Mittwochabend in einer Fernsehansprache. Bei Protesten in Armenien kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei. 

Wenige Stunden zuvor hatten Baku und pro-armenische Kämpfer sich auf eine Waffenruhe geeinigt. Die De-facto-Behörden von Bergkarabach erklärten, Verhandlungen mit Baku über die Integration der Region in das Nachbarland Aserbaidschan akzeptiert zu haben. 

Bergkarabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, in dem Gebiet leben aber überwiegend Armenier. 1991 hatte sich Bergkarabach nach einem international nicht anerkannten und von der aserbaidschanischen Minderheit boykottierten Referendum für unabhängig erklärt. Der nun gebrochene Widerstand der pro-armenischen Kräfte in Bergkarabach stellt einen bedeutenden Sieg für Alijew dar.

Verliert Bergkarabach seine Armenier?

Beobachter befürchten indes, dass ein erheblicher Teil der 120.000 armenischen Bewohner das Gebiet nun verlassen könnten. Auf in lokalen Medien verbreiteten Bildern war eine Menschenmenge vor dem Flughafen der von pro-armenischen Kräften kontrollierten Hauptstadt Stepanakert zu sehen. Das Weiße Haus äußerte am Mittwoch Besorgnis hinsichtlich der humanitären Lage in Bergkarabach.

Die Hintergründe des Konflikts

Die Karte zeigt die umkämpfte Region Bergkarabach: Die Wurzeln des Konflikts liegen historisch lange zurück: Bereits 1917 lieferten sich Armenien und Aserbaidschan nach dem Ende der Zarenzeit einen Bürgerkrieg um Bergkarabach. 1921 schlug der Sowjetherrscher Josef Stalin die Region der sozialistischen Sowjetrepublik Aserbaidschan zu, ab 1923 genoss sie Autonomie.
Pro-armenische Rebellen brachten das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Gebiet Ende der 80er Jahre mit Eriwans Unterstützung unter ihre Kontrolle. 1991 erklärte Bergkarabach nach einem Referendum seine Unabhängigkeit. Diese wird international jedoch bis heute nicht anerkannt. 

Erster Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan

Im Zuge eines jahrelangen Kriegs wurden hunderttausende Menschen aus beiden Ländern vertrieben und schätzungsweise 30.000 Menschen getötet. Das Bild zeigt armenische Flüchtlinge, die mit einem Hubschrauber am 3. März 1992 Stepanakert, die Hauptstadt von Bergkarabach, verlassen. 1993 eroberte die armenische Armee von Baku kontrollierte Ortschaften und errichtete eine 8000 Quadratmeter große "Sicherheitszone" zwischen Berg-Karabach und der armenischen Grenze, die etwa 20 Prozent des aserbaidschanischen Staatsgebiets ausmachte.

Waffenstillstand und Bemühungen um eine Lösung des Konflikts

1994 wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet. 2008 vereinbarten Armenien und Aserbaidschan nach russischer Vermittlung eine politische Lösung des Konflikts anzustreben. Das Bild zeigt die damaligen Präsidenten Ilham Aliyev (Aserbaidschan, links), Dmitri Medwedew (Russland, Mitte) und Serge Sargsian (Armenien, rechts). Aber auch in den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Gefechten mit dutzenden Toten.
International wird Bergkarabach weiterhin als Teil Aserbaidschans angesehen. Das erdölreiche Aserbaidschan drohte wiederholt damit, Bergkarabach zurückzuerobern, sollten internationale Bemühungen zur Lösung des Konflikts zu keinem Ergebnis führen. Jahrelange Vermittlungsversuche scheiterten immer wieder.

Zweiter Krieg zwischen den beiden Kaukasusrepubliken

Im Herbst 2020 kam es zu einem neuen Krieg. Das Bild zeigt Menschen, die damals in Stepanakert Zuflucht in einem Luftschutzbunker suchten. Die Kämpfe endeten nach sechs Wochen und 6500 Toten mit einem von Russland vermittelten Waffenstillstandsabkommen, das Armenien zur Aufgabe großer Gebiete zwang. Russland entsandte 2000 Soldaten zur Überwachung des Waffenstillstands. Trotz ihrer Präsenz gingen die Auseinandersetzungen weiter, beide Seiten machten sich gegenseitig dafür verantwortlich.

Blockade und wachsende Spannungen

Obwohl Aserbaidschan im Waffenstillstandsabkommen einen freien Personen- und Güterverkehr zwischen Armenien und Bergkarabach über den Latschin-Korridor zugesichert hatte, begann Baku Ende 2022 mit einer Blockade der einzigen Verbindungsstraße (im Bild). Lebensmittel, Medikamente und Treibstoff wurden knapp; die armenische Regierung warf Baku vor, eine humanitäre Krise in der Enklave herbeizuführen.

Neue Militäroffensive Aserbaidschans

Schäden in einem Wohngebiet nach einem Militärschlag auf Stepanakert in Bergkarabach: Allen getrennten Vermittlungsbemühungen Russlands, der EU und der USA zum Trotz konnten sich Eriwan und Baku auf keinen gemeinsamen Friedensvertrag einigen. Nach dem Tod von vier Polizisten und zwei aserbaidschanischen Zivilisten bei einer Minenexplosion in Bergkarabach startete Aserbaidschan am 19. September einen Großangriff auf die Enklave. Baku sprach von "örtlich begrenzten Anti-Terror-Einsätzen" gegen armenische Separatisten. Es forderte die Auflösung der separatistischen Regierung in Bergkarabach und deren Truppen.

Aserbaidschan und Armenien streiten seit dem Zerfall der Sowjetunion um die Enklave und hatten sich deshalb bereits zwei Kriege geliefert, zuletzt im Jahr 2020. Damals hatte das traditionell mit Armenien verbündete Russland nach sechswöchigen Kämpfen mit mehr als 6500 Toten ein Waffenstillstandsabkommen vermittelt, das Armenien zur Aufgabe großer Gebiete zwang. Russland entsandte damals 2000 Soldaten zur Überwachung des Waffenstillstands - die den jüngsten Gewaltausbruch aber nicht verhinderten.

Russische Friedenstruppen evakuieren Tausende

Nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau vom Mittwochabend hielt die Waffenruhe in Bergkarabach indes weiterhin. Die russischen Friedenstruppen hätten im Rahmen einer Evakuierungsaktion 3154 Menschen in Sicherheit gebracht, darunter 1428 Kinder. Am Mittwoch meldete das Verteidigungsministerium jedoch auch, mehrere russische Soldaten der Friedenstruppen seien nahe der Ortschaft Tschanjatag unter Beschuss geraten und getötet worden.

Der aserbaidschanische Staatschef Alijew erklärte in seiner Fernsehansprache, die "illegalen armenischen Einheiten" hätten bereits mit dem "Rückzug von ihren Stellungen" begonnen. 

Die Gespräche über die Integration Bergkarabachs in den Rest Aserbaidschans sollen den beiden Parteien zufolge am Donnerstag in der aserbaidschanischen Stadt Jewlach beginnen. 

Protest gegen die Regierung von Armenien

In Armenien regte sich unterdessen lautstarker Protest gegen den Umgang der Regierung mit der Krise. Demonstranten in der Hauptstadt Eriwan warfen Steine und Flaschen auf Polizisten. Die Sicherheitskräfte setzten Blendgranaten ein und nahmen mehrere Menschen fest. Die Demonstranten hatten sich vor dem Büro von Regierungschef Nikol Paschinjan versammelt. Sie werfen der Regierung vor, die mehrheitlich armenische Bevölkerung der selbsternannten Republik Bergkarabach im Stich gelassen zu haben.

Paschinjan hatte zuvor in einer Fernsehansprache erklärt, dass Eriwan "an der Ausarbeitung des Textes der Waffenstillstandserklärung in Bergkarabach" nicht beteiligt gewesen sei. 

Aserbaidschan siegt militärisch

Am Dienstag hatte Aserbaidschan nach Wochen eskalierender Spannungen einen groß angelegten Militäreinsatz in der Kaukasusregion gestartet. Stepanakert sowie weitere Städte standen nach Angaben der Behörden von Bergkarabach unter "intensivem Beschuss". Nach armenischen Angaben wurden dabei 32 Menschen getötet, 200 weitere wurden demnach verletzt. Ein Vertreter der selbsternannten Republik Bergkarabach sprach hingegen von "mindestens 200 Getöteten und 400 Verletzten". 

Während die Waffenruhe in Bergkarabach zu halten schien, meldete Armenien am späten Mittwochabend einen Zwischenfall an der Grenze zu Aserbaidschan. Aserbaidschanische Armee-Einheiten hätten mit "leichten Waffen" auf armenische Vorposten nahe dem Dorf Sotk geschossen, erklärte das Verteidigungsministerium.

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