Die Vision Pro ist kein Must-have – und trotzdem die Zukunft. Warum fast alle Apples Brille falsch verstehen

15.02.2024 11:41

"Sollen wir alle in Zukunft mit einer Taucherbrille rumlaufen?" – so oder ähnlich witzeln viele Menschen über Apples Datenbrille Vision Pro. Wer sie wirklich verstehen will, muss bloss auf die Anfänge des iPhones schauen.

Kein Mensch braucht sowas. Sollen wir alle künftig mit so einem Ding herumlaufen? Das ist viel zu teuer. Es sieht merkwürdig aus. Die Akkulaufzeit ist zu kurz. Es fehlt eine Tastatur, um damit arbeiten zu können. Das setzt sich nicht durch. Diese Kritik traf kurz nach der Vorstellung ein neues Apple-Produkt. Doch bemerkenswerterweise ging es nicht die neue Vision Pro. Sondern um das erste iPhone. Bei Apples seit Anfang Februar in den USA erhältlicher Datenbrille ist es nun ähnlich. Doch die meiste Kritik hat eines gemein: Sie zeigt, dass die Idee hinter dem neuen Produkt nicht verstanden wurde.

Denn als der Konzern bei der Vorstellung im letzten Juni von einem "historischen Tag" sprach, gar eine neue Ära ankündigte – dann meint er damit nicht, dass er erwartet, die Brille würde bei Erscheinen auf einen Schlag das iPhone ersetzen. Apple zeigt in erster Linie die Richtung auf: die Zeit nach der mobilen Revolution.

Die nächste Ära

Nachdem der Durchbruch des Heimcomputers Rechner in jedes Zuhause brachte und dann das Smartphone unseren Alltag quasi komplett digitalisierte, ist nach Ansicht des Konzerns nun der nächste Schritt dran. "Spatial Computing" nennt Apple das, was auf Apples deutscher Variante des "räumlichen Computers" etwas weniger schmissig klingt. Und trotzdem: Hat man die Brille einmal ausprobiert – wie sich das anfühlt erfahren Sie hier – versteht man sofort, worauf Apple hinauswill. Mit der Brille wird der Computer von den Einschränkungen des Bildschirms befreit. Und kann sich frei im Raum entfalten.

Das hat riesige Vorteile. Statt einen Computer und einen oder gar mehrere Monitore auf dem Schreibtisch stehen zu haben, reicht künftig die Datenbrille und bei Bedarf Zubehör wie Maus und Tastatur. Die Fenster verteilt man einfach im Raum, der Platz für neue Inhalte oder noch größere Ansichten ist nicht das Problem.

Wer sich nun an das Metaverse oder VR erinnert fühlt, hat natürlich nicht Unrecht. Der größte Unterschied der Vision Pro zu den bereits verbreiteten Geräten ist aber, dass man die Welt um sich herum nur soweit verlässt, wie man das möchte. Die Umgebung und die Menschen darin sind auf Wunsch entweder sichtbar oder ausgeblendet, je nachdem, ob man im Wohnzimmer oder im Flugzeug sitzt. Durch die extrem hohe Auflösung fühlt sich das deutlich "echter" an, als etwa beim bekanntesten Konkurrenzprodukt, der Quest 3 von Facebooks Mutterkonzern Meta. Auch die Umsetzung ist durchdachter.

Zudem sollen bei Apple auch die Menschen im Umfeld die Träger:innen durchaus wahrnehmen. Deshalb zeigt die Brille das Gesicht des Trägers über ein Display nach außen. Apple legt viel Wert darauf zu betonen, dass der persönliche Kontakt durch die Brille nicht gestört werden soll. Auch wenn die Augendarstellung auf der Außenseite laut den ersten Testern noch recht bizarr wirkt: Der Gedanke ist sicher nicht falsch.

Fremdkörper

Seit dem Release gibt es nun auch die ersten Eindrücke aus dem Alltag. Vor allem männliche Influencer spazieren damit durch die Straßen, setzen sich mit der Brille ins Restaurant oder gar ans Steuer eines Autos (hier erfahren Sie mehr). Und wollen so Reaktionen provozieren.

Wirkt das alles aktuell noch extrem befremdlich? Natürlich tut es das! Aber das war beim ersten iPhone genauso der Fall. Ein Handy war damals etwas, das man gelegentlich aus der Tasche zog und es nicht selbstverständlich ständig in der Hand hatte. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich mich fragte, wozu zur Hölle man ständig das Internet in der Hosentasche dabei haben wollen würde. Heute können wir es uns nicht mehr anders vorstellen.

Wie schon das Smartphone könnten auch Datenbrillen in Zukunft unseren Alltag deutlich verändern. Würden wir alle eine solche Brille besitzen, wären plötzlich völlig neue Anwendungen denkbar. Von digitalen Schildern an Läden, ständig sichtbare Navigation bis zu gemeinsamen, rein digitalen Spielen. Genau daran glaubt auch Apple: "Es wird jeden Aspekt unseres Lebens berühren", erklärte mir CEO Tim Cook beim Gespräch nach der Vorstellung die Vision des Konzerns (hier erfahren Sie mehr).

Nicht straßentauglich

Beim klobigen Look der Brille und seinem Preis sollte man sich bewusst machen, dass auch Apple kaum erwarten dürfte, demnächst Menschenmassen draußen mit der Vision Pro zu sehen. Die Brille ist quasi ein erster Wegweiser: In diese Richtung wird es gehen. Die Technik wird kompakter werden, das Design zurückhaltender. Bis vielleicht irgendwann halbwegs normal aussehende Brillen übrig bleiben.

Die Fragen, ob wir auf der Straße damit herumlaufen werden, beantwortet Apple übrigens selbst. Auf einer Hilfeseite warnt der Konzern explizit davor, mit der Brille am Verkehr teilzunehmen. In keinem einzigen der Werbematerialien sind die Träger der Vision Pro draußen unterwegs. Das bisherige Modell ist klar für die Benutzung im Büro, dem Wohnzimmer oder vielleicht noch im Flugzeug konzipiert. Wer nun mit dem neuesten Gadget protzen will, wird sich davon vermutlich nicht aufhalten lassen. Machen wir uns nichts vor: Natürlich wird es Fotos von Promis geben, die mit der Brille am Rand eines Basketball-Spiels sitzen. Oder damit in den Club spazieren.

Apropos protzen: Auch beim enorm hohen Preis lohnt sich übrigens der Blick zurück zum ersten iPhone. Klar, 3500 Dollar sind eine Stange Geld, zumal sie eher 4200 bis 4500 Euro in Deutschland entsprechen dürften. Aber auch das erste iPhone war sagenhaft teuer. 699 Dollar zahlte man damals – wenn man einen Vertrag dazu buchte, der nochmal mindestens 60 Dollar monatlich kostete. Bedenkt man, dass die Brille dabei einen Rechner und einen oder gar mehrere Monitore ersetzt, relativiert sich der Preis ohnehin schon. Wie beim iPhone oder der Apple Watch dürften in Zukunft aber auch günstigere Versionen erscheinen, die Konkurrenten werden nachziehen. Die Quest 3 gibt es etwa bereits ab 550 Euro.

Blick in die Zukunft

Ob die Brille jetzt schon bereit ist, war nach Berichten auch intern bei Apple heftig umstritten. Ich würde sagen: Das ist sie. Nicht, weil ich es besonders attraktiv finde, ein solch klobiges Ding im Gesicht zu tragen. Oder weil alle Funktionen so gut umgesetzt sind, wie es nur möglich ist. Sondern weil man beim Ausprobieren schon jetzt sofort begreift, dass man gerade in die Zukunft schaut. Es ist kein Zufall, dass selbst die hartgesottensten Journalistenkollegen ausnahmslos die Wirkung der Brille loben – auch wenn sie weiter jede Menge Verbesserungsmöglichkeiten sehen. 

Bis solche Datenbrillen im Mainstream ankommen, dürften noch einige Jahre ins Land gehen, die Produkte und ihre Bedienung müssen in vielerlei Hinsicht noch reifen. Aber auch das Touchscreen-Smartphone brauchte nach der Vorstellung des iPhones 2007 noch bis etwa 2012, bis es ausgereifter war und eine kritische Masse erreicht hatte. In fünf Jahren wird auch Apples Brille anders aussehen, die Konkurrenz wird zahlreiche Alternativen anbieten. Und wir werden uns daran gewöhnt haben.

 

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