Krisen, Kriege und eine Regierung im Dauerclinch haben den Verdruss an "denen da oben" genährt und die AfD gemästet. Deren Denken nistet sich im Mainstream ein. Unsere Demokratie gerät gefährlich unter Druck.
Was ist eigentlich passiert in diesem Jahr 2023, zu dessen Beginn die AfD in Umfragen noch bei 13 Prozent lag? Sind im Winter Zehntausende in ihren eisigen Wohnungen erfroren? Mussten BASF und Bayer ihre Produktion einstellen? Stehen Massen zerlumpter und ausgemergelter Menschen bettelnd auf der Straße?
Die Zustände in diesem Land sind jedenfalls weit entfernt von allen Untergangsprophezeiungen. Stattdessen steigen die Renten für die rund 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner, die Gasspeicher sind voll, die Inflation ist einigermaßen gebändigt. Und bis auf die Bundeswehr funktioniert im Prinzip alles, sogar das Internet und die Bahn, okay, öfter nur leidlich oder mit Verzögerung.
Aber wir stehen nicht vor dem Zusammenbruch. Und wer einen Funken des guten alten rheinischen Optimismus bewahrt hat, könnte am Ende dieses Jahres sagen: Et hätt noch immer jot jejange. Sogar die ollen Heizungen hat der Habeck nicht eigenhändig ausgebaut. Und trotzdem.
Und trotzdem könnte dieses sich dem Ende zuneigende 2023 als das Jahr erweisen, in dem etwas Entscheidendes ins Wanken geraten ist. Die Veränderungsresistenz, die den Deutschen innewohnt, traf ja über viele Jahrzehnte auch ihre Demokratie. Sie galt – und war! – stabil wie nirgendwo sonst. Die Wahlbeteiligung hoch, die Regierungen alles in allem verlässlich, radikale Parteien chancenlos. Populismus und Chaos, das waren immer die anderen, kurz: die Österreicher, die Italiener …
Die Deutschen sind nicht mehr so demokratiefreudig, wie sie es einst waren
Die durch die Nazi-Jahre geläuterten Deutschen hielten sich dagegen in einer Art spät entdecktem Urvertrauen im Zweifel an die Definition von Winston Churchill: "Demokratie ist die schlechteste Staatsform, ausgenommen all diese anderen, die man von Zeit zu Zeit ausprobiert hat."
Es war einmal. Mitte August veröffentlichte die Körber-Stiftung eine repräsentative Umfrage, deren Ergebnisse mehr als alarmierend sind. Danach ist der Anteil der Deutschen, die ihrer Demokratie nur wenig vertrauen, innerhalb von zwei Jahren von 30 auf 54 Prozent gestiegen. 71 Prozent stimmen der Aussage zu, die Verantwortlichen in Politik und Medien lebten "in ihrer eigenen Welt, aus der sie auf den Rest der Bevölkerung hinabsehen". 58 Prozent sagen: "Für Leute wie mich tut die Politik weniger als für andere Gruppen." In der "Mitte-Studie" der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmen 30 Prozent sogar dem Satz zu: "Die regierenden Parteien betrügen das Volk." Das sind fast doppelt so viele wie vor zwei Jahren. Und acht Prozent der Befragten – jeder Zwölfte – teilt inzwischen ein rechtsextremes Weltbild; früher lag der Anteil konstant unter drei Prozent.
Das ist kein schleichender Erosionsprozess mehr, das ist einer im Galopp. Zweifel, Zwietracht, Futterneid – es wirkt, als wären die Erzählungen der AfD in den Mainstream eingesickert.
Was also ist passiert? Da es zuweilen hilft, sich erst einmal im Kleinen zu tummeln, um das große Ganze besser verstehen zu können, an dieser Stelle kurz ein paar persönliche alltägliche Beobachtungen. Ich stamme aus einem Dorf in Süddeutschland. Wenn ich zu Besuch bin, muss ich mich immer erst einmal wieder an die Umgangsformen gewöhnen. Dass man auf der Straße jemanden grüßt, den man nicht kennt. Dass Bedienungen, die Jahrzehnte jünger sind, einen nicht ganz selbstverständlich duzen. Und es pisst auch keiner in aller Öffentlichkeit einfach irgendwohin, schon gar nicht an Stadtbahn-Haltestellen.
Die Bundesrepublik im Jahr 2023 – ein Land hat kollektiv schlechte Laune
Dafür halten sie die Genderei für ausgemachten Schwachsinn. Ob die bei mir in Berlin nichts Besseres zu tun hätten, fragte jüngst mein alter Freund, der Zahnarzt, ein äußerst aufgeklärter Mensch. Und ein anderer behauptete, er benutze die Stadtbahn nicht mehr, weil die "arabischen Arschlöcher" darin so viel Lärm und Dreck machten. Auch er ist weit davon entfernt, AfD zu wählen.
Neulich fuhr ich im Bus den Ku’damm entlang. Keine der üblichen Berliner Proll-Ecken. Am Europa Center stieg eine Frau mit Kinderwagen ein. Der Platz für Rollstühle oder Kinderwagen war besetzt, niemand rückte beiseite. Die Frau kam nicht weiter, die Türen konnten nicht schließen, der Bus nicht starten. Sofort großes Gezeter unter den Fahrgästen. "Raus oder rein!", "Bist du blöd oder was?" Den Rest erspare ich Ihnen. Das war selbst für Berliner Verhältnisse etwas heftig. "Es wird immer schlimmer", stöhnte eine Mitfahrerin, als der Bus endlich weiterfuhr.
Unverständnis und Verdrossenheit, Ungeduld und Intoleranz, Unzufriedenheit und Rücksichtslosigkeit. Ja, es wird immer schlimmer. Gefühlt, gemessen und beobachtet.
Die Bundesrepublik im Jahr 2023 – ein Land hat kollektiv schlechte Laune. Eine Abart des US-Trumpismus hat sich eingefressen in diese Republik. Der hässliche Umgang miteinander ist aus den sozialen Medien in den Alltag eingesickert. Es ist, als befinde sich die Gesellschaft gerade lärmend auf dem organisierten Rückzug vom zivilen Umgang miteinander – und, damit zusammenhängend, auf einem stillen Auszug aus der Demokratie.
Denn die schlechte Laune, genährt und gemästet durch eine Überdosis Krisen, zu der sich nun noch ein Krieg im Nahen Osten samt aufflammendem Antisemitismus im eigenen Land gesellt, diese schlechte Laune nährt und mästet im Verbund mit dem Gefühl, von "denen da oben" in Berlin und Brüssel missachtet zu werden, vor allem die AfD (und womöglich bald auch eine Wagenknecht-Partei, sollte sie je real existieren). "Die da oben" dagegen sind im Generalverschiss. 76 Prozent waren Ende 2023 unzufrieden mit der Bundesregierung, 69 Prozent mit dem Kanzler. Eine Misstrauenserklärung von historischer Dimension, Quittung auch für einen Ampel-Dauerzank von ähnlich historischem Kaliber um Waffenlieferungen, Kindergrundsicherung, Heizungsgesetz, Schulden, Einwanderung, Atomkraft … Nur ein paar Beispiele.
Und damit zu ein paar weiteren, verstörenden Zahlen. Wären heute – Stand Mitte November – Wahlen im Bund, käme die AfD auf einen Stimmenanteil von 21 Prozent. Bei Landtagswahlen im Westen läge sie zwischen verschmerzbaren zehn (Saarland) und schmerzhaften 20 Prozent (Baden-Württemberg). Im Osten gibt es kein Bundesland mehr, bei dem die AfD nicht stärkste Partei werden würde; überall erhielte sie deutlich über 30 Prozent der Stimmen, in Sachsen sogar 35 Prozent. Gegen sie könnten nur Koalitionen aus drei oder vier Partnern regieren, das Zerrbild vom Altparteienkartell würde bestätigt. Die Mastkur ginge weiter.
Wir sind nicht Weimar. Aber inzwischen offenbar eine Demokratie mit immer weniger Demokraten
Solange die AfD nur eine Partei für alte, ältliche und altgeborene Männer war, die ihren Frust darüber, zu kurz gekommen zu sein, in der Wahlkabine austobten, war die Sache vergleichsweise harmlos. Ein Vogelschiss in der bundesrepublikanischen Parteiengeschichte. Nicht schön, aber auch kein Drama. Inzwischen hat sich die AfD allerdings in der Mitte der Wählerschaft breitgemacht. Die lange Zeit fast eherne Regel "Das wählt man nicht!" gilt in bürgerlichen Kreisen nicht mehr. Längst halten 27 Prozent die AfD für eine "normale demokratische Partei", und nur gut die Hälfte der Deutschen kann sich gar nicht vorstellen, sie zu wählen; vor drei Jahren lehnten noch 74 Prozent die AfD rundum ab.
Normal? Demokratisch? Nein, wir sind deshalb nicht Weimar. Wir sind auch nicht schnurstracks und unwiderruflich auf dem Weg dorthin. Von Verelendung ist die Republik, siehe oben, weit entfernt, die Massen an Arbeitslosen, die Hitler mit an die Macht brachten, gibt es nicht; nur Massen von Mittelschichtlern, die – noch ohne jeglichen Grund – von Abstieg und Verarmung albträumen und damit hadern, dass es anderen besser geht. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi hat dieses vor allem im Osten beheimatete Gefühl, benachteiligt und betuppt worden zu sein, auf die wunderbare Formel gebracht: "Das Argument ist nicht, dass es den Leuten schlecht geht, sondern dass sie sich darin eingerichtet haben, dass es ihnen nicht gut geht."
Manchmal bestimmt eben der Schein das Bewusstsein. Wir schaffen das – das war ein lapidarer wie großer Satz. Inzwischen gilt für viele eher: Wir wollen das gar nicht schaffen. Und das ist keineswegs nur auf die Aufnahme weiterer Flüchtlinge gemünzt.
Aber auch das ist wahr: Wir sind mittlerweile offenbar eine Demokratie mit immer weniger Demokraten. Dafür mit viel mehr Rechthabern und Robespierres auf beiden Seiten des politischen Spektrums; in ihrer Rigorosität nehmen sich "Letzte Generation" und "Identitäre Bewegung" nur wenig. Die Unerbittlichkeit reicht jedoch weit über radikale Minderheiten hinaus. Heute gebe es "eine zunehmende Haltung, das, was man selbst für richtig und wahr erkannt hat, unbedingt durchsetzen zu wollen", sagt der Bremer Politologe Philip Manow. Er spricht vom "Extremismus der selbst ernannten Mitte". Jedes unbedachte Wort, jeder kleine Ausraster, jede verrutschte Geste kann sofort viral gehen (und tut es in der Regel auch), bis in den hintersten Winkel verbreitet werden, verhöhnt, im Zweifel verfälscht.
Jetzt hilft nur noch ein unterschütterlicher Optimismus
Es ist nicht leicht, sich dagegen zu wappnen. Was Fake ist und was nicht? Auf den ersten Blick oft kaum zu erkennen. In dieser Welt gerät der Seriöse automatisch ins Hintertreffen. Für Populisten wie die AfD ist es eine Erfolgsgarantie. Verständigung, gar Versöhnung, gehört nicht zu ihrem Konzept. Das macht die politische Debatte so fürchterlich – und so furchtbar anstrengend.
So trifft eine politische Krise auf eine gereizte und von Pandemie, Geldsorgen, Kriegen genervte, überforderte und aufgewiegelte Gesellschaft, deren Mitglieder vielfach das Gespür dafür verloren zu haben scheinen, was der viel gescholtene Staat in den vergangenen Jahren geleistet hat. Bei all den "Bazookas" und anderen Milliarden-Programmen mag es dabei nicht stets gerecht zugegangen sein, oft auch schleppend und bürokratisch, alles in allem aber stimmte das Versprechen "You’ll never walk alone". Nur herrscht eben der Eindruck vor: Gewinner, das sind immer die anderen.
Auch deshalb wird Olaf Scholz nach zwei Jahren im Kanzleramt nicht der Respekt entgegengebracht, den er umgekehrt für jeden (und jede!) einfordert. Vielleicht hülfe ja ein respektablerer, weniger streitlustiger Umgang miteinander in der Ampel, zumindest ein wenig des verloren gegangenen Vertrauens zurückzuholen.
Womöglich setzt sich sogar die Erkenntnis durch, dass dabei mehr auf dem Spiel steht als nur der nächste Wahlsieg, viel mehr. Nur braucht es eine Überdosis rheinischen Optimismus, daran zu glauben.