Das Verbot des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe, Freigesprochene erneut vor Gericht zu stellen, sorgt für Diskussionen – auch in den Kommentarspalten deutscher Zeitungen.
Ein rechtskräftig Freigesprochener darf wegen derselben Tat nicht erneut vor Gericht gestellt werden — auch dann nicht, wenn es neue Beweise gibt. Das hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag entschieden. Eine gesetzliche Neuregelung von 2021, wonach ein Strafprozess im Fall bestimmter schwerer Verbrechen wie Mord erneut aufgerollt werden kann, wenn neue Beweise eine Verurteilung sehr wahrscheinlich machen, verstoße gegen das Grundgesetz. Dort ist das Verbot verankert, jemanden wegen derselben Tat mehrmals zu bestrafen. Schon die mehrfache Verfolgung sei verboten, sagte Gerichtsvizepräsidentin Doris König bei der Urteilsverkündung. Das Grundgesetz schütze sowohl einmal verurteilte als auch freigesprochene Menschen.
Die Karlsruher Richterinnen und Richter gaben damit dem Tatverdächtigen im Fall der vor 42 Jahren getöteten Frederike von Möhlmann recht. Die 17-jährige Schülerin war 1981 bei Celle vergewaltigt und getötet worden. Der Verdächtige wurde knapp zwei Jahre nach der Tat aus Mangel an Beweisen rechtskräftig freigesprochen. Nach einem neuen DNA-Gutachten 2012 und der Gesetzesänderung wurde er im vergangenen Jahr erneut festgenommen sollte vor Gericht gestellt werden und hatte dagegen geklagt.
So kommentiert die Presse das Urteil aus Karlsruhe:
"Lausitzer Rundschau" (Cottbus): "Der Gedanke ist schwer zu ertragen, dass möglicherweise ein Mörder frei herumläuft, obwohl man ihm seine Tat zweifelsfrei nachweisen könnte. Auf der anderen Seite: Sollen andere nach einem Freispruch ihr Leben lang damit rechnen müssen, dass ihr Verfahren neu aufgerollt wird – sei es, weil weitere Indizien auftauchen oder weil neue Zeugenaussagen zu berücksichtigen sind? Diese beiden Gesichtspunkte hatte das Bundesverfassungsgericht abzuwägen und sich für maximale Rechtssicherheit entschieden. Den Angeklagten mag das freuen. Für die Angehörigen der getöteten jungen Frau ist der Richterspruch sicherlich ein schwerer Schlag. Es bleibt die bittere Erkenntnis: Recht ist nicht immer Gerechtigkeit."
"Das Bundesverfassungsgericht hat nicht über Gerechtigkeit entschieden"
"Neue Osnabrücker Zeitung": "Mord verjährt nicht. Aber sollte ein freigesprochener Mörder erneut vor Gericht gestellt werden dürfen? Das Bundesverfassungsgericht – und das ist wichtig – hat nicht über Gerechtigkeit entschieden, sondern darüber, ob eine erneute Anklage mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar ist. Auf Basis der Entscheidung aus Karlsruhe kann im konkreten Fall einem mutmaßlichen Mörder, der nun, nach Jahrzehnten, mittels DNA-Beweis verurteilt werden könnte, nicht erneut der Prozess gemacht werden. Rechtlich lässt sich argumentieren, dass das richtig sei, dass es Rechtssicherheit und Rechtsfrieden brauche, dass ein Mensch nicht für ein Verbrechen immer wieder angeklagt werden solle, bis er verurteilt werde. Ob dieses Verbot an sich aber fair ist, ist eine ganz andere Frage."
"Hannoversche Allgemeine Zeitung": "Rechtspolitischer Pfusch im Parlament, so zeigt sich, führt keineswegs zu mehr Gerechtigkeit. Man konnte es ahnen. Warum wohl hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Gesetz Ende 2021 nur zögernd unterschrieben, von verfassungsrechtlichen Bedenken gesprochen und eine "erneute parlamentarische Prüfung und Beratung" empfohlen? Wer Mehrfachprozesse auf juristisch saubere Art zulassen will, müsste die Verfassung ändern. Aber würden dafür jemals die nötigen Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat zusammenkommen? Bei aller Aufregung über eine mögliche – vielleicht sogar schreiende – Ungerechtigkeit im Einzelfall gibt es ein Interesse aller an der generellen Verlässlichkeit und Effizienz des Rechtsstaats. Dazu gehört das Prinzip, dass ein Freispruch ein Freispruch ist."
"Allgemeine Zeitung" (Mainz): "Sollte man den Tatverdächtigen nicht wieder vor Gericht stellen dürfen? Ja, sagt der gesunde Menschenverstand. Ja, hat auch die große Koalition gesagt und 2021 an der Strafprozessordnung geschraubt, damit in solchen Fällen eine erneute Strafverfolgung möglich wird. Nein, hat jetzt das Bundesverfassungsgericht gesagt und deshalb die Gesetzesänderung für nichtig erklärt. Man kann es so formulieren: Der Rechtsstaat hat seine Chance, den Täter vor Gericht der Tat zu überführen. Eine zweite bekommt er nicht. Muss das so sein? Ja. Dürfte der Rechtsstaat es erneut versuchen, würde das in letzter Konsequenz der Willkür Tür und Tor öffnen – es könnte so lange angeklagt werden, bis eine Verurteilung zustande kommt."
"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "Im Rechtsstaat darf niemand zweimal wegen derselben Tat bestraft werden. Aber die alte, unter dem Grundgesetz übernommene Strafprozessordnung enthält Ausnahmen. Karlsruhe meißelt einen Grundsatz in Granit, der mitnichten abwägungsfest ist. Hier geht es (...) um die Erweiterung von Wiederaufnahmegründen in besonderen Fällen. Die Karlsruher Entscheidung zementiert eine Rechtslage, die zu krassen Wertungswidersprüchen führt. Dass das Verfassungsgericht den Angehörigen der Ermordeten sein Bedauern ausdrückt ("schmerzhaft") und betont, hier gehe es nicht um den konkreten Fall, macht die Sache nicht besser. Rechtsfrieden siegt über materielle Gerechtigkeit? Es dient auch dem Rechtsfrieden nicht, wenn mutmaßliche Schwerstverbrecher ungeachtet neuer stichhaltiger Beweise unbehelligt bleiben."