Durch Zufall erfährt Fiona, dass ihr Freund Lenny sie betrogen hat. Als sie ihn nach Wochen der Überwindung endlich darauf anspricht, macht er alles nur noch schlimmer. Eine fiktive Geschichte über die egoistischste aller Erklärungen fürs Fremdgehen.
Fiona erfuhr in großer Runde, dass Lenny sie betrogen hatte. Sie war eigentlich nur auf ein Glas mit ihrer besten Freundin Birte verabredet, aber mit Birte blieb man nie lange allein. Wie ein eckiger Käfer ruckelte ihr Handy vibrierend über den kleinen Holztisch der Weinstube. Ein paar Arbeitskollegen seien in der Nähe, sagte Birte mit Blick aufs Display, in der Bar gleich um die Ecke, ob es okay wäre, wenn sie auch noch auf einen Drink vorbeikommen würden.
Fiona hatte eigentlich noch ein bisschen mehr von Lenny erzählen wollen. Dass er immer wortkarger wurde, dass sie ständig diskutierten, dass sie kaum noch Sex hatten, dass sich ihre Beziehung inzwischen so zäh anfühlte wie der Besuch der fünfstündigen Opernaufführung, den Lenny ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Aber Fiona war müde, seit Wochen schon, und deshalb nickte sie bloß. Klar können deine Kollegen vorbeikommen, Birte.
Fiona wusste nicht, ob sie angeflirtet wurde
Kurz darauf saßen sie zu zehnt am Holztisch. Die Kellnerin zündete noch ein paar Kerzen an und die Stimmung war heiter, die Kollegen hatten schon ein paar Drinks hinter sich. Einer von ihnen hieß Jens und schaute immer wieder verstohlen in Fionas Richtung. Sobald sich ihre Blicke trafen, drehte er den Kopf sofort zur Seite. Fiona wusste nicht, ob sie angeflirtet wurde, wollte es aber darauf ankommen lassen und erwiderte seine Blicke so lange, bis er ihrem endlich standhielt.
"Bist du Fiona Forster?", fragte Jens.
Fiona nickte. "Woher kennst du meinen Nachnamen?"
Weil jetzt alle Gespräche am Tisch auf einen Schlag verstummten, lächelte Jens mit schmalen Lippen. Seine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen, als würde er nicht in Fionas Gesicht, sondern in die Sonne blicken. Für einen Moment bereute er, den Mund aufgemacht zu haben. "Dein Freund Lennart war am Wochenende mit uns unterwegs", sagte er schließlich und verzog das Gesicht, als habe er sich gerade ein Pflaster von der Haut gerissen. "Ich weiß nicht, ob er es dir erzählt hat."
Fiona stellte fest, dass sie von Jens schon mal gehört hatte. Lenny und er hatten zusammen studiert. Sie waren keine Freunde, aber gute Bekannte, die ab und zu in großer Gruppe zusammen feiern gingen. Persönlich begegnet war Fiona ihm noch nie. Sie kannte ihn nur aus den Anekdoten jener Abende. Erst jetzt fiel Fiona auf, dass Lenny vom letzten Wochenende kaum etwas erzählt hatte.
"Sie haben es auf der Clubtoilette getrieben"
"Lennart hatte Sex mit meiner Freundin", sagte Jens und nippte an seinem Bier. "Sie haben es auf der Clubtoilette getrieben." Ein Murmeln ging um den Tisch. "Während ich tanzen war." Jens musste schmunzeln und sah dabei ein bisschen wahnsinnig aus. Es schien ihm eine Genugtuung, sein Leid zu teilen.
Alle Augen lagen jetzt auf Fiona. Sie versuchte, die Blicke mit einem Lächeln abzuwehren. Es gelang ihr ungefähr so natürlich, als hätte sie ihre Mundwinkel mit Angelhaken nach oben gezogen. Kurz darauf wurde links und rechts von Fiona hitzig diskutiert. Sie war gerührt über die Mühe, mit der die anderen die peinliche Situation für sie erträglicher machen wollten. Die Schwere der Enthüllung schwebte trotzdem wie Zigarettenrauch über dem Tisch.
Fiona blieb noch, bis sie den Boden ihres Glases erreicht hatte. Auf dem Heimweg kamen ihr die Tränen. Sie war nicht traurig. Sie war erleichtert, die längsten Minuten ihres Lebens hinter sich zu haben und endlich alleine zu sein. Und sie war wütend wie noch nie in ihrem Leben. Wütend auf sich selbst.
Ich hätte es kommen sehen müssen, dachte Fiona. In letzter Zeit gähnte Lenny ständig, wenn sie ihm von der Arbeit erzählte. Außerdem ging er gleich an die Decke, wenn sie mal wieder ihre Klamotten im Bad liegen ließ. Und als sie sich vorgestern auf seinen Schoß gesetzt hatte, war er schlaff geblieben: "Lass uns lieber Netflix gucken." Ich hätte es kommen sehen müssen, dachte Fiona. Aber wer in der Einflugschneise wohnt, hört den Fluglärm irgendwann nicht mehr.
Lenny schlief schon, als Fiona nach Hause kam. Sie versuchte, ganz leise zu sein. Als sie sich neben ihn ins Bett legte, hämmerte ihr Herz in ihren Ohren. Es übertönte sogar Lennys Schnarchen.
Sie gab ihm noch ein paar Tage und observierte ihn ab sofort wie eine verdeckte Ermittlerin. Lenny verhielt sich wie immer: Er checkte seinen Look, sobald er an einer Fensterscheibe vorbeikam; er bildete sich immer noch ein, so unauffällig in der Nase bohren zu können, dass Fiona es nicht bemerkte; er leckte die Zeigefingerspitze an, bevor er eine Magazinseite umblätterte.
Sie begann sich vor seinen Küssen zu ekeln
Diese Schrullen, die Fiona früher süß gefunden hatte, widerten sie jetzt an. Sie konnte nicht fassen, dass er sich nichts anmerken ließ. Dass er einfach alles so machte wie vorher. Sie begann sich vor seinen Küssen zu ekeln. Sie fühlte sich gedemütigt, als er sie im Bus plötzlich in den Arm nahm und ihr ins Ohr nuschelte: "Ich liebe dich, Süße."
Aber sie ließ sich nichts anmerken. Er wird das nicht durchziehen, dachte Fiona, er wartet sicher nur auf den passenden Zeitpunkt, es mir zu beichten. Sie glaubte wirklich daran. Sie wartete noch ein paar Tage, aus denen Wochen wurden. In ihrem Kopf entwarf sie Szenarien, wie sie reagieren würde. Sie versuchte sich vorzustellen, unter welchen Umständen sie ihm verzeihen könnte. Was Lenny tun müsste, um es wieder gut zu machen.
Sie hasste sich dafür, dass sie ihn nicht verlieren wollte. Sie schämte sich dafür, dass sie die Fehler bei sich suchte. Dass sie sich fragte, warum sie es nicht verhindern konnte, warum sie ihm nicht mehr genügte. Sie wusste, dass diese Gedanken Unsinn waren. Aber sie brauchte dringend eine Erklärung. Lennys Beichte ließ weiter auf sich warten, und Fiona hatte immer noch ein bisschen länger Geduld. Und noch ein bisschen länger.
Bis zum "Bachelor"-Abend.
Der "Bachelor"-Abend war von Anfang an ihr Abend gewesen, der Abend von Fiona und Lenny. Er war ihr gemeinsames Geheimnis. Sie waren sich einig, dass die TV-Kuppelshow weit unter ihrem Niveau lag, und diese beruhigende Erkenntnis machte das Laster erst recht zum hemmungslosen Vergnügen. Wie Diebe amüsierten sie sich über die dämlichen Dialoge, die peinlichen Outfits und den Sexismus, dem sich die Teilnehmerinnen so verstörend bereitwillig unterwarfen. Lenny und Fiona erzählten keinem von diesen Abenden. Der "Bachelor" gehörte nur ihnen.
Als die neue Staffel startete, waren inzwischen fast sechs Wochen vergangen seit dem Abend in der Weinstube. Schon beim Vorspann beschlich Fiona ein mulmiges Gefühl. Weil sie wusste, was der "Bachelor" bedeutete. Und weil sie ahnte, dass sie es nicht ertragen würde. Und tatsächlich: Wie immer lästerte Lenny leidenschaftlich über die Teilnehmer der Show.
"Sie sollte lieber Schuhe tragen, in denen sie laufen kann."
"Wie dumm ist der Typ eigentlich?"
"Außer ihren Brüsten hat sie aber keine Argumente."
"Findest du nicht, Süße?"
Früher hatte Fiona gerne mitgemacht. Sie hatte sogar noch härtere Sprüche gerissen als Lenny. Aber jetzt widerte sie sein ironischer Sexismus nur noch an. Wie konnte er sich über die Klischeefiguren im Fernsehen lustig machen? Er hat mich schließlich mit einer Fremden betrogen. Auf einer Clubtoilette. Er war ein übleres Klischee als der komplette "Bachelor"-Cast.
Trotzdem dauerte es bis zur zweiten Werbepause, ehe er bemerkte, dass von Fiona gar keine Kommentare kamen.
"Was ist denn los?", fragte er wie ein Komiker, der Applaus einfordert.
Zum ersten Mal an diesem Abend sah sie ihm direkt ins Gesicht. "Warum musstest du sie ficken?"
"Was?", fragte er. "Wen?"
Fiona lächelte ihn bloß an, weil seine Augen verrieten, dass er wusste, was sie meinte. Bis hierhin hatte sie seine Reaktion genau so erwartet, aber der entscheidende Teil würde nun folgen. Sie war bereit, ihm zu vergeben. Sie wollte ihn nicht verlieren, das hatte sie in den Wochen des Wartens festgestellt. Sie würde ihm den einmaligen Fehltritt verzeihen, wenn seine Entschuldigung sie überzeugte. Das war die einzige Voraussetzung.
Er schien sich wirklich zu schämen
Lenny erzählte ihr alles. Die Begegnung mit Jens' Freundin, ihre Blicke, wie der wortlose Flirt innerhalb von Minuten eskaliert war. Es klang alles so, wie Fiona es sich vorgestellt hatte. So weh ihr seine Details taten, so seltsam vertraut hörte sich seine Version an. Irgendwie fühlte sie ihn endlich wieder. Ihr gefiel, dass er so offen über seinen Fehler sprechen konnte. Und er schien sich wirklich zu schämen.
Fiona wollte Lenny gerade küssen, weil die dunklen Gedanken der letzten Woche endlich von ihr abfielen und sie ein völlig unverhältnismäßiges Gefühl der Euphorie überkam, als er ihr Gesicht in beide Hände nahm und sagte: "Ich will, dass du weißt, dass ich dich nur körperlich betrogen habe, aber nicht emotional."
Fiona hielt die Luft an und wich einen Schritt zurück. Er hatte es wirklich gesagt. Er hatte diesen einen Satz gesagt, von dem sie sich geschworen hatte, ihn niemals zu akzeptieren. Es war der Satz, den sie schon in so vielen Filmen gesehen, in so vielen Büchern gelesen hatte. Die egoistischste Ausrede, die ein Fremdgeher bemühen kann. Fiona fühlte sich noch heftiger beleidigt als in den Wochen zuvor.
"Was ist los?", fragte Lenny. "Du guckst schon wieder so komisch."
Er versuchte, sie zurück an seine Brust zu ziehen, aber sie schlug seine Hand weg und dachte: Emotional oder körperlich - was macht es für einen Unterschied? Du hast fremd gevögelt, und auch wenn es sich dabei um einen körperlichen Vorgang handelt, sind Emotionen immer damit verbunden, und wenn nicht, dann will ich noch viel weniger mit dir zu tun haben als ohnehin schon. Du hast kein Recht, Liebe und Sex in deinem Kopf zu trennen. Nicht ohne mein Einverständnis. Abgesehen davon interessiert es mich nicht, wie du deinen Betrug vor dir selbst rechtfertigst, solange ich weiß, wie er sich für mich anfühlt. Und mit dieser hohlen Phrase verhöhnst du mich.
Fiona holte tief Luft und klopfte Lenny auf die Schulter wie einem Kumpel.
"Sorry", sagte sie. "Körperlich kann ich dir verzeihen, aber emotional bin ich dazu echt nicht in der Lage."