Ich würde dir gerne ein Ohr abschneiden : Was ukrainische Soldaten in russischer Gefangenschaft erlebten

05.07.2022 12:00

Hunger, Prügel, psychische Folter: Soldaten der Ukraine haben nach ihrem Austausch gegen russische Gefangene berichtet, wie es ihnen in der Hand der Kreml-Truppen erging.

Tausende Soldaten sind seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar dem jeweiligen Gegner in die Hände gefallen. Ihre genaue Anzahl ist unbekannt. Kiew macht schon seit Längerem keine Angaben zu russischen Kriegsgefangenen mehr. Das Verteidigungsministerium in Moskau meldete Ende Juni mehr als 6000 gefangene Ukrainer. Unabhängig überprüfen lässt sich diese Zahl aber nicht. Zwischen den Armeen der beiden Länder finden immer wieder Gefangenenübergaben statt. Zuletzt tauschten Russland und die Ukraine am vergangenen Mittwoch insgesamt fast 300 Gefangene aus.

Ukrainer berichten von Hunger, Prügel und psychischer Folter

Auch Mykhaylo war in russischer Kriegsgefangenschaft. Der 20-Jährige hatte seine militärische Ausbildung noch gar nicht abgeschlossen, als russische Luftlandetruppen in den ersten Kriegstagen den Flughafen Hostomel in der Nähe der Hauptstadt Kiew angriffen, wie er dem US-Sender NBC News erzählte. Nach einem heftigen Gefecht habe seine Einheit keine andere Wahl gehabt, als sich zu ergeben.

Er sei zunächst an verschiedenen Orten rund um den Flughafen festgehalten und später über das Nachbarland Belarus in die russische Stadt Kursk gebracht worden, berichtete Mykhaylo, der seinen vollen Namen aus Sicherheitsgründen nicht genannt haben möchte. Nach der Gefangennahme sei "das Essen knapp" gewesen und die Kriegsgefangenen hätten nur einen Löffel Haferflocken und ein paar Esslöffel Wasser pro Tag bekommen. Die Russen "erklärten dies damit, dass es ihnen auch an Vorräten mangelte".

Sie hätten jeden Morgen routinemäßig die russische Nationalhymne singen müssen, schilderte Mykhaylo dem Sender in einem Rehabilitationszentrum am Stadtrand von Kiew seine Kriegsgefangenschaft. "Sie nahmen uns unsere Uniformen weg, schlugen uns zusammen, steckten uns in Zellen und brachten uns zu Verhören." Die Russen hätten Informationen über die Bewaffnung der ukrainischen Truppen haben wollen und vor allem nach amerikanischen Stinger- und Javelin-Raketen gefragt. "Aber die hatten wir nicht."

"Jeder wurde geschlagen", berichtete der junge Soldat, der nach eigener Aussage zwei Monate in Gefangenschaft verbrachte, bevor er im Rahmen einer Austauschaktion freigelassen wurde. Er selbst habe aber noch Glück gehabt. Einige andere Gefangene — sowohl Zivilisten als auch Militärangehörige — hätten weitaus schlimmere Strafen erlitten. Einer seiner Mitgefangenen habe ihm erzählt, dass seine Peiniger ihn auf die Nieren und ins Gesicht geschlagen hätten, eine Stunde lang, wo immer sie konnten. "Wenn er schlief, stöhnte er die ganze Nacht", erzählte Mykhaylo. "Wir wollten ihm irgendwie helfen, aber wir konnten nichts tun." Andere, die Tätowierungen mit ukrainischen Symbolen hatten, seien "sehr schlimm geschlagen" worden.

"Ich würde dir gerne ein Ohr abschneiden"

Der Marineinfanterist Glib Stryzhko erlebte ebenfalls die russische Kriegsgefangenschaft. Der 25 Jahre alte Ukrainer gehörte zu den Verteidigern der Hafenstadt Mariupol und wurde im April schwer verletzt von den Kreml-Truppen gefangen genommen und in ein Krankenhaus gebracht. In der Klinik hätten die Russen die verwundeten Gefangenen "nicht ernsthaft behandelt", berichtete Stryzhko. "Meine Stationsnachbarn hatten Schrapnelle im Körper. Die Russen zogen sie nicht einmal heraus — sie verbanden nur ihre Wunden und ihre Gliedmaßen verrotteten weiter."

Der Nachrichtenagentur AFP erzählte der 25-Jährige, dessen Aussagen sich ebensowenig unabhängig überprüfen lassen wie die von Mykhaylo, man habe ihm im Krankenhaus gerade genug zu essen gegeben, um am Leben zu bleiben. Eine Pflegerin habe ihn auf Russisch beschimpft und das Essen neben seinem Bett abgestellt, da sie wusste, dass er nicht ohne Hilfe essen konnte. "Dann kam die Pflegerin zurück und sagte 'Sie sind also fertig?' und nahm das Essen weg."

Die Krankenschwestern hätten ihm und seinem Stationsnachbarn vorgeworfen: 'Wegen euch wurde mein Sohn getötet." Er habe versucht, Verständnis aufzubringen, aber die Pflegerinnen hätten sie für Dinge beschuldigt, die sie nie getan hätten, erklärte der Ukrainer. "Und wir bekamen dauernd russische Nachrichten vorgelesen, morgens und abends. Das war ein enormer Druck auf unsere Psyche, eine Verzerrung der Realität."

Im Krankenhaus sei er ständig bewacht worden, erzählte Stryzhko. Einmal sei ein Wächter mit einem Messer an seiner Haut entlanggestrichen und habe gedroht: "Ich würde dir gerne ein Ohr abschneiden oder dich so schneiden, wie die Ukrainer unsere Gefangenen schneiden."

Am 28. April sei er schließlich zusammen mit drei weiteren schwer verletzten Landsleuten ausgetauscht worden. Zunächst habe man ihn zu einem Militärflugplatz auf der Krim geflogen und dann mit einem Militärlastwagen in ein Krankenhaus in die von der Ukraine kontrollierte Stadt Saporischschja gebracht. "Der Fahrer des Lastwagens kam zu mir, klopfte mir auf die Brust und sagte: 'Entspannt euch, ihr seid jetzt in der Ukraine'," schilderte Stryzhko die Übergabe. "Und in diesem Moment fing ich an zu weinen."

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