Jetzt auch noch die Wartezimmer-Affäre: Die CDU hat Führung bestellt. Und jemanden bekommen, der enge Betreuung braucht. Kann das gut gehen?
Wie in allen Bereichen des Lebens kommt auch in der Politik irgendwann der Zeitpunkt, da zeigt sich ein Verhaltensmuster. Da kann niemand mehr von Fehltritt sprechen, von einem einmaligen Ausrutscher, von: "Naja, da hat er kurz nicht nachgedacht." An der Spitze der CDU ist dieser Punkt jetzt erreicht. Spätestens jetzt.
Das Muster sieht so aus: Immer wenn die deutsche Christdemokratie gerade glaubt, es kehre vielleicht doch mal Ruhe ein, haut Friedrich Merz einen raus.
Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine." Sagt der CDU-Chef bei "Welt TV" über abgelehnte Asylbewerber. Das ist der neueste Satz, das nächste Steinchen. Es fügt sich zu einem Merz-Mosaik, das leider so gar nicht cadenabbia-türkis schimmert.
Nun gibt es in der Politik keine Pflicht zur Empathie. Aber zwischen Klartext und Klischee, zwischen Handlungsbedarf und Halbwahrheiten steht eine Brandmauer, die man besser nicht anrührt. Wer Vertrauen für sich schaffen will, sollte nicht Vorurteile über andere schüren. Merz hat diese Grundregel des anständigen Konservatismus' missachtet. Nicht zum ersten Mal.
Friedrich Merz hat seine Impulse nicht unter Kontrolle
In der CDU können sie die Stichwörter runterbeten wie das Vaterunser: Sozialtourismus, kleine Paschas, Sommerinterview zur AfD. Für sich genommen und mit etwas Wohlwollen betrachtet, sind das Ausrutscher. In Summe und Regelmäßigkeit sind sie genau das nicht.
Nur, wie geht man damit um, wenn der Chef seine Impulse nicht unter Kontrolle hat?
Es mag an der Funkdisziplin liegen, die sich der Rest der Partei – anders als der Vorsitzende – eineinhalb Wochen vor zwei wichtigen Landtagswahlen auferlegt hat, dass unmittelbar nach dem "Welt"-Auftritt niemand den direkten Angriff wagt.
Es mag aber auch eine gewisse Ermüdung eingetreten sein, die dafür sorgt, dass sich außer dem Ex-Kurzzeit-Generalsekretär Ruprecht Polenz (und Ministerpräsident a.D. Tobias Hans) kein prominenter Christdemokrat kritisch äußert. Wer geht schon in die Politik, um alle paar Wochen den eigenen Parteichef zu maßregeln?
In weiten Teilen der CDU herrscht Ernüchterung. Dass Merz nicht alles einlöst, was er versprochen hat? Geschenkt, schwere Zeiten, er hat’s nicht leicht, das Merkel-Erbe, Sie wissen schon… Dass aber jeder Fernsehauftritt zum Risiko wird, dass nach jedem Interview ein Aufräumkommando bereitstehen muss – das haben sie sich anders vorgestellt.
Die Partei hat Führung bestellt. Und jemanden bekommen, der enge Betreuung braucht.
Die CDU kannte ihren Merz nicht mehr wirklich
Der daraus folgenden Frage, mit der sich die Partei rumplagen muss, hat die Heimatzeitung der gemäßigten Konservativen heute eine ganze Seite gewidmet. "Ist Merz der Richtige?", steht über dem Artikel. Bei Redaktionsschluss konnten die Kollegen der FAZ nicht wissen, wie goldrichtig sie mit ihrem Timing liegen.
Mehr als ein Jahrzehnt war Merz für viele Christdemokraten die personifizierte Hoffnung auf eine gute alte Zeit nach Angela Merkel. Auf einen Neuanfang, der die Partei zu sich selbst zurückführt. Wo dieser Weg hinführt, war erst einmal egal. Hauptsache man läuft endlich los – und Merz vorneweg.
Über ihn selbst, über seine Stärken und Schwächen, wussten sie in der CDU in Wahrheit nicht mehr viel. Als Merz den CDU-Vorsitz übernahm, war er ein Mann der hohen Erwartungen. Seine Eigenschaften? Vergessen bis unbekannt.
Inzwischen, nach mehr als eineinhalb Jahren Merz-CDU, weiß man, dass er ein guter Oppositionsführer ist. Das war er schon einmal, das hat er nicht verlernt, das liegt ihm. Als Fraktionschef findet Merz den richtigen Ton gegen den Kanzler. Hart, aber selten unfair. Seine Leute haben aus regierungssatten Wahlverlierern eine schlagfertige Opposition geformt. Die Stimmung in der Fraktion? Passt. Und wer Merz hier zum Gespräch trifft, erlebt einen aufgeräumten, ja bisweilen nachdenklichen Politiker, der nicht so wirkt, als träfe er seine Entscheidungen nur aus einer Laune heraus.
Inzwischen weiß man aber auch, dass die Welt ein paar Straßenecken weiter ganz anders aussieht. Im Konrad-Adenauer-Haus begrüßt Merz seine Gäste in einem lichtdurchfluteten Büro mit weißbeiger Sofalandschaft. Sonst glänzt dort wenig bis gar nichts. Der Versuch, der Partei einen neuen Anstrich zu verpassen, endete in Hohn über eine falsche Kuppel und Spott über die Farbenlehre à la Adenauer. Merz hat einige wichtige Mitarbeiter verschlissen und den Generalsekretär ausgetauscht.
Die Fraktion hat einen Plan. Die Partei schafft sich neue Probleme. Im Bundestag sind Merz und sein Team gut sortiert. Für die Parteizentrale gilt die alte Andi-Brehme-Weisheit: Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß!
Kurze Lunte und Bauch-Empirie
Es sind vor allem zwei Eigenschaften, die dafür sorgen, dass Merz sich selbst Hindernisse in den Weg legt, Satz um Satz, Stein um Stein. Zum einen wäre da die kurze Lunte. Es brauchte nur einen Gastbeitrag von Hendrik Wüst, ein Statement von Daniel Günther, und schon kofferte der CDU-Chef zurück. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen? Führt auch keine besonders erfolgreiche Regierung. Und Kritik aus Schleswig-Holstein? Nur eine Einzelmeinung.
Mit dieser Auslegung von Souveränität qualifiziert man sich nicht fürs Kanzleramt.
Hinzu kommt, zweite Eigenschaft, das gute Bauchgefühl für anekdotische Empirie. Merz versteht es, Stimmungen aufzuspüren. Er merkt sich, was Kreisvorsitzende und Bürgermeister ihm berichten. Was an sich gute Politiker auszeichnet, wird zum Problem, wenn es mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat. Wenn Merz nun aufgeschnappt hat, dass es Ärger mit Flüchtlingen in Wartezimmern von Zahnärzten gibt, dann lohnt es sich, dem nachzugehen. Darüber reden sollte man als CDU-Chef aber nur, wenn sich das Problem auch de facto als solches erweist.
Zu Bonner Zeiten konnte man schonmal raushauen, was so an Stimmungen durch die Partei waberte. Versendet sich. In der Berliner Republik folgt auf jede Äußerung der Faktencheck. Man tut Merz unrecht, ihn schlicht als Politiker von vorgestern abzustempeln. Nur tut er sich selbst keinen Gefallen, stets dieselben Fehler zu wiederholen.
Wie soll das weitergehen?
Vier Tage Parteitag für Aufbruch und Erneuerung
Nach den Wahlen in Hessen und Bayern, so hört man in von manchen in der Partei, könnte es noch unangenehmer werden für Merz. Der Kontakt zwischen Wüst und Günther sei enger geworden. Auch Hessens Ministerpräsident Boris Rhein und Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner gehören zu denen, die mitreden wollen, wenn im kommenden Jahr über die Kanzlerkandidatur entschieden wird.
Man sollte nicht damit rechnen, dass jemand aus dem Kreis der Landesfürsten den offenen Schlagabtausch sucht. Aber wenn Merz so weitermacht, müssen sie nur Nadelstiche setzen. Hier mal ein kritisches Interview, ein zweideutiges Statement da. Dann wird aus dem Hoffnungsträger der unmögliche Kandidat.
Im Mai will Merz die Neuaufstellung der CDU abschließen. Vier Tage Parteitag in Berlin, ein neues Grundsatzprogramm, ein echter Aufbruch. So stellt sich der CDU-Chef das vor. Wenn er bis dahin fehlerfrei bleibt, wenn er wirklich als strahlender Erneuerer von der Bühne gehen kann, wird ihm die Kanzlerkandidatur kaum zu nehmen sein.
Wenn, ja wenn. Merz bleibt nur noch ein gutes halbes Jahr, um alte Muster abzuschütteln.