In dieser Gegend regnet es immer wieder Weltraumschrott

13.02.2019 14:30

In der russischen Taiga stürzen immer wieder Hightech-Trümmer zu Boden. Die Bewohner der Weißmeerregion freuen sich über den kostbaren Niederschlag

Als Raffaele Petralla zum ersten Mal von den Dörfern hört, die Weltraumschrott recyclen, hält er die Geschichte für einen Scherz: Männer, die durch die russische Taiga ziehen, um dort vom Himmel gestürzte Tanks und Triebwerke einzusammeln? Familien, die sich Raketenteile zur Dekoration in den Garten stellen? Oder aus ihnen Schlitten, Öfen und Traktoren bauen? Eine bizarre Vorstellung. Doch die Neugier des italienischen Fotografen ist geweckt.

Ein russischer Freund hatte ihm von der Region ­Mesenski am Weißen Meer erzählt. Diesen entlegenen Landstrich im Nordwesten Russlands, nur wenige Kilometer vom Polarkreis entfernt, schottet der Staat als Grenzzone von Besuchern ab. Viele Gebiete dort darf nur betreten, wer einen Passierschein vorweisen kann. Raffaele Petralla reist deshalb inoffiziell zu den Dörfern der Region; zweimal in den vergangenen 19 Monaten.

Der 37-Jährige ist fasziniert von den Bewohnern dieser abgeschiedenen Welt, einer sehr dünn besiedelten Region, in der Boote und Motorschlitten wichtige Verkehrsmittel sind. Die Menschen hier haben sich gut damit arrangiert, in der Flugschneise des rund 300 Kilometer entfernten, lange geheim gehaltenen Weltraumbahnhofs Plessezk zu leben.

Dass aus dem Himmel über ihnen immer wieder Raketenteile aufs Land stürzen, empfinden sie nicht als bedrohlich, im Gegenteil: Mit Geschick und Pragmatismus machen sie sich die Weltraumtechnik zu eigen. „Für die Bewohner ist es ein Glücksfall, solche Fragmente zu finden“, so Petralla. Raketenspitzen und Ummantelungen – aus den hochwertigen Metallteilen lassen sich Hilfsmittel für den Alltag bauen: Schaufeln, Hacken und Sensen, Aschenbecher und Heizkessel, Schlitten und Traktoren. Und: „Raketas“ – Boote, mit denen die Männer zum Fischen hinausfahren. Diese sind besonders beliebt, weil ihr Metall so widerstandsfähig ist.

Andere Bauelemente enthalten Gold oder Titan, was auf dem Schwarzmarkt gutes Geld einbringt. Dieser Handel ist offiziell zwar verboten, doch die russische Führung duldet das fantasievolle Recycling. Es ersetzt kostspielige Bergungs­arbeiten, die ansonsten notwendig wären.

Bereits seit 1966 schickte die Sowjetunion unbemannte Raketen von Plessezk aus in den Weltraum. Bis 1983 wurde der Stützpunkt geheim gehalten. Heute wird er so intensiv genutzt wie nie zuvor: Der weitaus bekanntere Weltraumbahnhof Baikonur liegt in Kasachstan, Russland will die Zahl der Starts dort reduzieren.

Plessezk hat sich daher zu einer der am stärksten genutzten Startrampen der Welt entwickelt: Innerhalb von 35 Jahren schoss Russland von hier aus mehr als 1500 Raketen ins All, meist, um Satelliten in die Umlaufbahn zu bringen. Dabei lösen sich Teile der Rakete noch während des Aufstiegs und stürzen zur Erde zurück. Dort sollen sie eigentlich in der Barentssee versinken. Doch oft schlägt der Schrott in der angrenzenden Küstenregion auf.

Problematisch ist das an einigen Bauteilen haftende Dimethylhydrazin. Dieser Raketentreibstoff gilt als hochgiftig und steht im Verdacht, krebserregend zu sein. Rund um Baikonur untersuchen Forscher, wie stark Treibstoffreste die Böden dort bereits verseucht haben. Vergleichbare Untersuchungen werden für die Regionen um Plessezk derzeit nicht durchgeführt. Bislang weisen die staatlichen Statistiken aber auch keine Häufung von Krebserkrankungen auf.

Die Zahl des problematischen Schrotts könnte allerdings noch steigen: Vom Jahr 2020 an sollen 44 Prozent aller russischen Raketenstarts von Plessezk aus erfolgen.

Quelle