Die Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern ist nicht immer leicht. Denn obwohl Kinder mehr verstehen, als man glaubt, fehlen ihnen oft noch die Worte, um sich verständlich zu machen. Hinzu kommen die missverständlichen Fragen der Eltern, die Kinder oftmals überfordern. Dabei ist es ungeheuer wichtig, dass sich Kinder ihren Eltern anvertrauen können – manchmal sogar lebenswichtig. Diese Mutter merkt gerade noch rechtzeitig, welchen Schaden sie beinahe mit ihren Fragen anrichtet:
„Wie kommt es, dass gute Eltern Kindesmissbrauch übersehen? - Indem sie nicht die richtigen Fragen stellen!
Eines Tages war mein Sohn auf der Halloween-Party eines Klassenkameraden. Als ich ihn nach ein paar Stunden abholte, sah ich an seinem breiten Lächeln, dass er sich gut amüsiert hatte. Kurz bevor wir gingen stand ich mit dem Vater und der Großmutter des Freundes vor der Tür.
Beide erzählten mir, wie vorbildlich sich mein Sohn verhalten hatte. Mein Mutterherz war erleichtert. Gott sei Dank: kein Streit, keine Scherereien!
Ich bugsierte mein gut gelauntes Kind ins Auto und fuhr nach Hause. Aber während der Fahrt fühlte ich mich unwohl. Irgendetwas stimmte nicht.
Da überkam es mich eiskalt. Ohne auf die Ampel zu achten fuhr ich auf den nächsten Parkplatz. Von hinten kam ein wohlverdientes Hupkonzert. Aber ich war neben der Spur. Denn ich hatte das schon mal erlebt – als ich noch ein Kind war.
Rückblende
Ich erinnerte mich daran, wie ich als kleines Mädchen von einem Teenager aus der Verwandtschaft missbraucht worden war, und wie mir meine Mutter nach einem Verwandtenbesuch ein paar unschuldige Fragen stellte:
„Hast du dich benommen? Bist du artig gewesen? Warst du ein braves Mädchen?“
Meine Mutter wusste nicht:
1. dass der Teenager, der dort wohnte, mich vor ihrer Ankunft bedroht hatte (manchmal stand er direkt hinter ihr und ballte seine Fäuste oder warf mir finstere Blicke zu);
2. dass diese Fragen, besonders in der Gegenwart der Person, die mich für sexuelle Experimente missbrauchte, mir in meiner Unschuld signalisierten, dass ich meiner Aufsichtsperson in jedem Fall zu gehorchen hatte;
3. dass ich, weil ich an der Tür mit „Ja“ geantwortet hatte, dachte, diese Antwort später nicht mehr zurücknehmen zu können (das hätte bedeutet, dass ich meine „Lüge“ von vorher hätte erklären müssen).
Wenn Eltern ihre Kinder in der Gegenwart von anderen Kindern und Erwachsenen fragen, ob sie brav gewesen seien, sehen sie sich oft dazu gezwungen, ja zu sagen.
Deshalb drehte ich mich auf dem Parkplatz zu meinem Sohn um und sah ihm in die Augen. Ich fing noch mal von vorne an. Ich stellte die richtigen Fragen.
Vielleicht solltest du überlegen, auch diese Fragen zu stellen, wenn dein Kind das nächste Mal unter fremder Aufsicht steht. Ich fragte meinen Sohn unter vier Augen:
- Hast du dich amüsiert?
- Wie hast du die Zeit verbracht?
- Was war dein schönstes Erlebnis auf der Party?
- Was war dein unangenehmstes Erlebnis?
- Hast du dich wohlgefühlt?
- Ist sonst noch was passiert, das du mir mitteilen willst?
Mache diese Fragen nach Möglichkeit zu einem festen Ritual. Daneben wäre es vielleicht hilfreich, deinen Kindern klarzumachen, dass sie das Erzählte jederzeit ergänzen können, sollte ihnen später noch was einfallen.
Der Fehler, den ich an jenem Tag gemacht habe, ist unter Eltern sehr geläufig. Wir fühlen uns als Herren der Lage, solange wir Fragen stellen. Doch genauer gesagt müssen Eltern alles in Frage stellen – zur richtigen Zeit, am richtigen Ort.“
Die Autorin des Erfahrungsberichts ist die 22-jährige Aktivistin Tonya GJ Prince aus den USA, die auf ihrer Webseite über das ernste Thema der sexuellen Gewalt informiert und aufklärt. Mit dieser aufrüttelnden Geschichte appelliert sie an alle Erwachsene, nicht nur ein offenes Ohr für die Sorgen der Kinder zu haben, sondern ihnen auch die richtigen Fragen zu stellen. Darüber hinaus sollten Angehörige der Opfer und Betroffene von sexuellem Missbrauch immer auch professionelle Hilfe suchen. Eine gute Anlaufstelle ist dieses Portal.