NORDITALIEN PER RAD Eine Radtour vom Po-Delta zur Adria

18.03.2019 17:28

Verträumte Küstenwälder und mittelalterliche Lagunenstädte versüßen die drei Tage, in denen unsere Autorin vom Naturreservat mit seinen verschlungenen Flussarmen im Nordosten der Emilia-Romagna zu den Stränden südlich von Rimini radelt - entlang der Küste und der Kanäle, mit denen sich Italiens größter Strom ins Mittelmeer ergießt

In diesem Artikel
Von Mesola bis nach Cervia mit dem Rad
Übernachtungstipps entlang der Strecke
Schöne Restaurants für eine Pause
Was Sie sich unterwegs unbedingt ansehen sollten

Von Mesola bis nach Cervia mit dem Rad

Jetzt ein Einhorn, das wär's. Oder wenigstens einen Schimmel, auf dem ich in diesen geheimnisvollen Wald hineingaloppieren könnte, unter den Eichen hindurch, deren Äste sich über mir zu einem weiten Tunnel verflochten haben. Aquariumgrünes Licht fällt durch die Blätter, über dem Waldboden schwebt ein Feenschleier aus Dunst.

In der Ferne äsen drei Hirsche; als unter mir ein Zweig knackt, heben sie die Köpfe und verschwinden im Nichts. Der Gran Bosco della Mesola ist ein sorgfältig umzäuntes Naturreservat, das von Parkwächtern im Jeep überwacht wird. Doch er fühlt sich unwirklich an, verzaubert, wie ein Zwischenreich. Er ist uralt, der letzte Überlebende eines antiken Küstenwaldes, der sich vor langer Zeit einmal von Grado bis hinunter nach Ancona hingezogen haben soll und den bereits die alten Römer abzuholzen begannen.

Seltsam fremd wirkt das exakt abgezirkelte Waldstück im Naturpark des Po-Deltas, mit dem sich der längste Fluss Italiens in die Adria ergießt. Nichts sonst hier im äußersten Nordosten der Emilia-Romagna sieht aus, als habe es Wurzeln. Es ist eine Welt der Sandböden, zusammengehalten von mäandernden Flussarmen und schnurgeraden Kanälen, gesprenkelt mit Teichen und Lagunen, in denen sich ein gewaltiger Himmel spiegelt. Deiche und Reihen magerer Pappeln sorgen für Struktur. Und schmale Asphaltsträßchen.

Ich bin auf dem Fahrrad unterwegs. In drei Tagen will ich vom stillen Städtchen Mesola, wo ich am Morgen gestartet bin, bis nach Cervia radeln, aus der Einsamkeit der Deichlandschaften in den romagnolischen Badetourismus. Ein kräftiger Ostwind treibt ein paar graue Wolken vor sich her und zerzaust das Grün der Spargelpflanzen. Gemüsefelder dehnen sich bis zum Horizont.

Seit die Feuchtgebiete im 19. Jahrhundert trockengelegt wurden, sind sie fruchtbares Ackerland. Pumpwerke aus Backstein erinnern an diese hydraulische Großleistung, ansonsten ist das Delta kaum besiedelt. Einzelne Gehöfte und villette, Einfamilienhäuser, ducken sich flach auf den Boden, trauen sich vielleicht nicht höher hinaus angesichts des gewaltigen Himmels, der alles so mächtig überspannt.

Nur der Campanile der Abtei von Pomposa macht eine Ausnahme. Er ist 1000 Jahre alt und 48 Meter hoch. Der Turm wirkt, als würde er nach oben hin breiter, aber auch leichter werden, da die Anzahl der Fenster von der Basis zur Spitze hin zunimmt – ein Meisterwerk ausgewogener romanischer Baukunst. Beeindruckt packe ich einen Energieriegel aus. Vor der richtigen Mittagspause stehen noch ein paar Kilometer auf dem Programm. Auf kleinen Straßen ohne Verkehr.

Am Po di Volano entlang, einem südlichen Flussarm, der in der Sonne funkelt, als schwämmen Myriaden von Brillanten darin. Graureiher stehen im Schilf. Weiter durch duftende Pinienhaine, und dann ist da plötzlich das Meer. Eine heitere taubenblaue Nachsaison-Adria, die sanfte, kleine Wellen an Land schickt. Ich esse mein Käsebrot auf dem feuchten Sandstrand, zwischen salzgebleichten Treibholzskulpturen. In der Ferne sammelt eine Frau Miesmuscheln in ein Sandeimerchen.

Wieder dieses Gefühl des Unwirklichen, Märchenhaften, mitten im hoch entwickelten Nordost-Italien. Gut, im Hochsommer hat man hier natürlich Liegestühle, Handyklingeln und Kindergeschrei, denn dieser Strand gehört bereits zu den sieben Lidi di Comacchio, ausgedehnten Zweithaus-Agglomeraten aus den boomenden 60er und 70er Jahren, als die Großstädter aus Mailand und Bolognanoch die ganzen dreimonatigen Sommerferien al mare verbrachten. Außerhalb der Saison sind die Lidi dagegen stille Geistersiedlungen, mit einem Vorteil: Weil so wenig Verkehr ist, kann ich mitten auf der Straße radeln.

Über Comacchio und die größte Lagune Italiens

Anstrengend wird es erst in Comacchio, dem Städtchen zwischen Adria und Lagune, das einst wie Venedig auf kleinen Inseln erbaut wurde. Ich muss das Fahrrad über steile Steinbrücken schleppen. Niedrige Fischerhäuser säumen die Wasserarme. In winzigen Gemüsegeschäften wird im Ofen gegarter Kürbis angeboten. Frauen fahren ihre Einkäufe auf klapprigen Rädern nach Hause, während sich sämtliche Männer unter den Arkaden vor der Bar "Ragno" versammelt zu haben scheinen. Noch so ein völlig aus der Zeit gefallener Ort. Sieht nicht aus, als hätte sich viel verändert, seit hier Sophia Loren den Film "La Donna del Fiume" drehte. Das war 1954.

Dicke schwarze Aale werden bis heute in den Valli di Comacchiogefangen, wie die Brackwasserlagune vor den Toren der Stadt heißt. Es ist die größte Lagune Italiens. Ein Ozean, wie es mir am nächsten Morgen vorkommt, als ich mein nächstes Etappenziel, das gegenüberliegende Ufer, nicht einmal erkennen kann.

Auf einem loipenschmalen Radpfad mache ich mich hoch auf dem Damm auf den Weg. Seltsame Pfahlbauten aus Holz und Wellblech säumen das Ufer; wie langbeinige Insekten sitzen sie mit ihren aufgespannten Hebenetzen im Schilf. Es sind bilancioni, die Hütten der Freizeitfischer, das nasse Äquivalent zum Schrebergarten.

Vor einem Mann, der eine Kühltasche schleppt und verzweifelt aus seinem Jogginganzug guckt, bremse ich ab. Er sei für ein Jahr Anteilseigner an einem bilancione geworden, erzählt er, aber erst einmal kurz dagewesen. Zur Vertragsunterzeichnung. Im Dunkeln. Für heute hat er Freunde zum Mittagessen eingeladen. "Und jetzt finde ich die Hütte nicht wieder. Die sehen alle so gleich aus." Ich wünsche ihm viel Glück. Makellos glitzert die Wasserwelt im Sonnenlicht.

Durch die Pineta di Classe bis nach Cervia

Es ist ein herrlicher Tag, der Himmel eine riesige rauchblaue Käseglocke, und ich bin jetzt ganz allein auf dem Damm. Weit weg, zwischen zwei Schilfinseln, sieht es aus, als schwämmen zartrosa Wattebäuschchen auf dem Wasser. Es sind Hunderte von Flamingos. Aufgeregtes Geschnatter dringt herüber, bis sich schließlich eine Unterabteilung mit großen Flügelschlägen in die Luft erhebt und etwas abseits wieder niederlässt. Konfliktbewältigung im Paradies.

Ewig könnte ich so weiterfahren. Doch wer nach Ravenna will, muss sich irgendwann losreißen vom Lagunenglück. Es gilt, mit einer Fähre über einen Industriehafen zu setzen und dann auf städtischen Radwegen zum historischen Zentrum mit den berühmten byzantinischen Mosaiken vorzudringen.

Auf der Piazza del Popolo kurve ich zwischen Flaneuren und Kaffeehausstühlen hindurch, bis mir ein uniformierter vigile auf der Trillerpfeife nachpfeift. Absteigen soll ich. Und das in der Emilia-Romagna, der Heimat der Radsportlegende Marco Pantani! In Italien muss man bekanntlich ein Profi-Outfit tragen, um als Radfahrer ernst genommen zu werden. So wie Luciano, der mich am nächsten Tag von der Schnellstraße mit den vorbeidonnernden Lkws rettet. Dort bin ich gelandet, weil ich hinter Ravenna die Abzweigung zum Radweg verpasst habe.

Luciano – stramme Waden, Vintage-Rennrad aus den 50er Jahren und selbst auch schon über siebzig – will eigentlich auf der Schnellstraße nach Cervia, seine tägliche Trainingsroute. Doch dann disponiert er um und geleitet mich ritterlich durch die Pineta di Classe südwärts. Der Pinienwald ist das südlichste Teilstück des Naturparks Po-Delta und bringt zum Abschluss noch einmal konzentriert die ganze Reise zusammen.

Flussarme und Lagunen, Flamingos und bilancioni, großer Himmel und salziger Meeresduft – alles da. Und, kurz vor Cervia, sogar noch ein weiterer einsamer Märchenwald. Allerdings grenzt er an einen Golfplatz, und auch die Hotelblöcke des beginnenden Teutonen-Grills, der sich von hier mit flatternden Sonnenschirmen, Strandbars und Discos bis nach Cattolica hinunterzieht, lassen sich nicht mehr übersehen. Ein Einhorn wird nicht nötig sein. Aber eine Luftmatratze wäre jetzt fein!

Quelle