Psychologe gibt Rat, was Betroffene tun können

15.11.2019 13:56

Das kommt natürlich auf die individuelle Beziehung zum Verstorbenen an. Die Trauer um einen geliebten Angehörigen dauert in der Regel mehrere Jahre. Von der Gesellschaft werden den Menschen dagegen nur drei bis sechs Monate zugestanden. Das ist recht kurz. Meine Elterngeneration trug noch ein Jahr Trauer. Beim Mann war diese Trauer damals durch einen schwarzen Knopf am Revers symbolisiert, bei einer Frau durch ein schwarzes Überjäckchen oder Ähnliches.

Die Menschen haben es aber auch akzeptiert, dass jemand seine Trauer ein Leben lang mit sich herumträgt. Sigmund Freud hat gesagt: Trauerzustände sind keine Krankheit, von der man genesen kann. Heute ist man ungeduldiger: Psychotherapeuten diagnostizieren bei manchen Betroffenen mitunter schon nach zwei Monaten eine „anhaltende Trauer“, die behandelt werden müsse.

Was ist eine „anhaltende Trauer“?

Bei zwischen fünf und zehn Prozent der Trauernden kommt es zu einer pathologischen Entwicklung, die oft mit Angstzuständen, Panikattacken und Depressionen verbunden ist. Es findet keine Anpassung an die neue Situation statt, das soziale Umfeld wird vernachlässigt, man kann den Beruf nicht mehr ausüben und vereinsamt. Häufig tritt so etwas bei Hinterbliebenen auf, die eine eher komplizierte Partnerschaft zum Toten hatten; in dem Fall kommen oft Schuldgefühle hoch. Man kann nicht loslassen, weil die Beziehung schon schwierig war.

Welche Anzeichen gibt es dafür, dass man therapeutische Hilfe braucht?

Zum einen starke Schuldgefühle gegenüber dem Verstorbenen, die über Handlungen oder Unterlassungen im Moment des Todes hinausgehen. Zum anderen extreme Hoffnungslosigkeit, Gedanken an einen Suizid und unkontrollierbare Wut oder Depressionen.

Was können Betroffene tun?

Da viele kompliziert Trauernde sich mit allen Mitteln abzuschirmen versuchen gegen Reize, die mit dem Verlust verbunden sind, arbeiten Therapeuten dann mit aktivierenden Techniken: Sie nutzen persönliche Gegenstände oder Fotos des Verstorbenen als Gesprächsanlass, suchen mit dem Trauernden Orte auf, die für den Verstorbenen wichtig waren, sie geben Hausaufgaben in Form von Briefen an den Toten. Oder sie arbeiten mit Rollenspielen und der „Leerer Stuhl“-Technik, bei der der Verstorbene „Gesprächspartner“ ist.

Ist so eine professionelle Trauerbegleitung für jeden Betroffenen sinnvoll?

Die meisten Menschen brauchen das nicht. Die suchen sich lieber die nächsten Verwandten, dann enge Freunde, dann Arbeitskollegen und schließlich Geistliche. Psychologen und Trauerbegleiter sind der allerletzte Notnagel.

Denn Trauer ist immer ein geteilter Zustand: Wenn ich meinen Vater verliere, dann verliert auch meine Schwester ihren Vater, verliert meine Mutter ihren Mann. Es gibt immer ein Netz von Trauernden. Es hilft einem ungemein, festzustellen, dass andere genau so leiden wie man selbst, dass man nicht alleine ist. Ich kann mein Trauergefühl gewissermaßen sozial einbetten. Wenn es heutzutage zu einer „anhaltenden komplexen Trauerreaktion“ kommt, hat das oft damit zu tun, dass es in unserer individualisierten Gesellschaft viel Einsamkeit und Vereinzelung gibt.

Seit einiger Zeit gibt es „Trauerreisen“: Dabei fährt man gemeinsam weg und hat ständig Gesprächspartner. Nur ein Marketing-Gag?

Es entspricht einem grundlegenden Bedürfnis, seiner Trauer in einem bestimmten Rahmen Ausdruck geben zu dürfen, sich mit Menschen in ähnlicher Lebenslage auszutauschen. Und diese Rahmen gibt es heute immer weniger, insofern treffen die Trauerreisen durchaus eine Marktlücke. Ein ungutes Gefühl habe ich bei „Trauerexperten“, die anderen Menschen sagen, wie sie zu trauern haben. Sie behaupten oft, wenn man seiner Trauer nicht auf bestimmte Weise Ausdruck verleihe, dann laufe etwas schief. Trauer ist aber extrem individuell.

Als ich in jungen Jahren meinen Vater verloren habe, habe ich im Studium immer seine weißen Hemden getragen. Das war mir ein unbewusstes Bedürfnis.

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