Jede Familie hat ihre Geheimnisse. Je perfekter die Fassade nach außen hin erscheint, umso wahrscheinlicher ist es, dass im Laufe der Zeit so einiges Unschönes unter den Teppich gekehrt wurde.
Wenn die Familie besonders erfolgreich ist und im öffentlichen Leben steht, ist der Druck besonders groß, jede Peinlichkeit und alles Unangenehme zu verstecken und zu leugnen. Was sollen schließlich die Leute denken?
Eine der erfolgreichsten Familien des 20. Jahrhunderts sind mit Sicherheit die Kennedys. Aus der einflussreichen irisch-amerikanischen Dynastie gingen viele mächtige Geschäftsleute und Politiker hervor. Zugleich spricht man aber auch vom „Fluch der Kennedys“, denn allzu viele von ihnen ereilte ein schlimmes Schicksal.
Joseph Patrick Kennedy und Rose Elizabeth Kennedy hatten zwischen 1915 und 1932 miteinander insgesamt neun Kinder, von denen vier einen frühen, gewaltsamen Tod starben – der bekannteste unter ihnen war John Fitzgerald Kennedy, der als der 35. Präsident der USA im Jahr 1963 bei einem Attentat ermordet wurde.
Wem aber nicht von Attentätern, sondern von der eigenen Familie Schreckliches angetan wurde, war das dritte Kind und die älteste Tochter: Rosemary Kennedy. Rosemary wurde 1918 geboren und war ein stilles, scheues Kind. Sie lernte spät, zu laufen, aber sie liebte es, zu schwimmen. Als sie heranwuchs, verbesserte sich ihre Bewegungsfähigkeit noch mehr und sie lernte, zu tanzen. Ein Intelligenztest ergab, dass Rosemary leicht geistig behindert gewesen sein soll, aber diese Beurteilung ist bis heute umstritten. Fest steht nur, dass sie an Dyslexie litt und darum Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hatte – dies kann das Ergebnis eines Intelligenztests des frühen 20. Jahrhunderts erheblich beeinflusst haben.
Aber von den Kennedy-Kindern wurde Perfektion erwartet. Sie hatten sportlich, intelligent und gutaussehend zu sein und sollten das schöne Bild einer vollkommenen Familie abgeben. Jeden Samstag wurde mit einer Waage ihr Gewicht kontrolliert. Bei den Mahlzeiten wurde Lernstoff aus der Schule abgefragt. Die Spätentwicklerin Rosemary geriet hier schnell ins Abseits und reagierte ihre Frustration mit wütenden Trotzanfällen ab. Sie war in ihrer Familie als stur, aufbrausend und „schwer zu bändigen“ bekannt. Gleichzeitig versuchte sie immer, den hohen Anforderungen zu genügen, mehr zu lernen und ihre Eltern glücklich zu machen. Trotz ihrer Schreibschwäche schrieb sie seit ihrer Kindheit Tagebücher. „Ich hasse es, dich in irgendeiner Form zu enttäuschen“, schrieb sie 1934 in einem Brief an ihren Vater.
1939 schloss Rosemary erfolgreich eine Ausbildung zur Pädagogin ab. Sie war inzwischen zu einer lebensfrohen und abenteuerlustigen jungen Frau geworden und liebte es, zu Opernaufführungen und Sport-Events zu gehen, zu tanzen und zu flirten.
Ihr Vater Joseph begann sich Sorgen zu machen, dass ihre wilde Art und ihr gutes Aussehen den Kennedys bald die ungewollte Schwangerschaft einer unverheirateten Tochter bescheren würden. Dies hätte den Söhnen der streng katholischen Familie bei ihren Karrieren als Politiker erheblich geschadet. Rosemary galt als eine „tickende Zeitbombe“.
Im November 1941 arrangierte Joseph Kennedy eine Lobotomie für seine Tochter. Eine Lobotomie oder auch Leukotomie ist eine neurochirurgische Operation, bei der die Nervenbahnen zwischen Teilen des Gehirns durchtrennt werden. Diese grausame Prozedur wurde 1936 zum ersten Mal an einem Menschen vorgenommen und galt als das neue Wundermittel, um gefährliche Gewalttäter ruhigzustellen. Joseph Kennedy ließ sie an seiner 23-jährigen Tochter vornehmen.
Was da mit Rosemary gemacht wurde, kommt uns heute wie eine Szene aus einem Gruselfilm vor, aber die Lobotomie war auch in Deutschland bis in die 70er Jahre eine oft angewandte Methode, um Menschen von starken Gefühlen, Depressionen, Schizophrenie, Psychosen und auch Alkoholismus zu „heilen“. Es gibt jedoch kaum empirische Belege für eine Wirksamkeit des Eingriffs.
Für gewöhnlich wurde den Patienten eine lange Nadel mit scharfer Spitze am Augapfel vorbei durch die dünne Knochenwand der Augenhöhle ins Gehirn geschoben. Dort bewegte man dann die Nadel herum und zerschnitt die Nervenstränge in der Region des Stirnlappens.
Die meisten der so Behandelten verfielen in eine permanente Apathie. Sie waren für immer ihrer Emotionen und Persönlichkeit beraubt und verbrachten den Rest ihres Lebens in einem fügsamen Dämmerzustand.
Bei Rosemary verlegte sich der Neurologe Walter Freeman auf eine andere Variante. Er bohrte ihr an beiden Schläfen je ein etwa zweieinhalb Zentimeter großes Loch in den Schädel. Dann führte man ihr durch die Löcher einen scharfen Metallspatel in den Schädel ein. Rosemary war bei vollem Bewusstsein.
Freeman forderte sie auf, die ganze Zeit über zu sprechen, zu singen, Gedichte aufzusagen und zu zählen. Während der Spatel erst von der einen, dann von der anderen Seite die Verbindung zwischen Rosemarys Frontallappen und ihrem Zwischenhirn durchtrennte, wurden ihre Worte immer unzusammenhängender, bis sie schließlich ganz verstummte.
Sie sollte sich nie mehr erholen. In einer psychiatrischen Klinik musste sie mühsam wieder laufen, essen und sprechen lernen. Ihre Mutter erfuhr erst im Nachhinein, was mit ihrem Kind geschehen war. Sie hat ihrem Mann niemals verziehen. Als klar wurde, dass Rosemary Kennedy nie mehr über den Entwicklungsstand eines Kleinkindes hinauskommen würde, ließ ihr Vater sie 1948 in ein von Franziskanernonnen betriebenes Heim in Wisconsin bringen – weit weg von der vielversprechenden politischen Laufbahn ihres Bruders John F. Kennedy. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Ihren Geschwistern erzählte man, Rosemary sei in den Mittleren Westen der USA gezogen, um dort Lehrerin zu sein. Erst als Joseph Kennedy im Jahr 1961 einen Schlaganfall erlitt, der ihn schwerbehindert und pflegebedürftig zurückließ, erfuhren Rosemarys Brüder und Schwestern, was aus Rosemary geworden war. Erst dann, 20 Jahre nach der fatalen Operation, fing Rose Kennedy an, ihre Tochter im Heim zu besuchen.
Rosemary Kennedy starb am 7. Januar 2005 in dem Heim, das sie seit 1948 bewohnte. Ihre noch lebenden Geschwister Eunice, Jean, Patricia und Edward waren bei ihr. Ihr Vater Joseph hatte sie nie besucht.