Streicheln oder Schlachten? Warum unser Verhältnis zu Tieren so widersprüchlich ist

12.09.2023 12:07

Hunde und Katzen gehören zur Familie. Rinder und Schweine landen auf dem Teller. Wie kommt es, dass wir Tiere so unterschiedlich behandeln? Das hat sich auch Soziologe Dr. Marcel Sebastian gefragt – und ein Buch darüber geschrieben. Ein Gespräch über Moral, Tierliebe und Macht. 

"Streicheln oder Schlachten" ­– so lautet der Titel Ihres Buches. Es wirft einen soziologischen Blick auf unser Verhältnis zur Tierwelt. Warum ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür, Herr Sebastian?

Marcel Sebastian: Es ist enorm wichtig, dass wir über das Mensch-Tier-Verhältnis reden. Und bisher gab es dahingehend eine soziologische Lücke. Die öffentliche Diskussion ist bisher moralphilosophisch oder biologisch geprägt: Wie müssen wir Tiere behandeln und welche Fähigkeiten haben sie? Das sind natürlich auch wichtige Perspektiven, aber es braucht eine Analyse des gesellschaftlichen Wandels im Verhältnis zu Tieren.

Und wie lautet Ihr Fazit zum aktuellen Mensch-Tier-Verhältnis unserer Gesellschaft?

Wir sind als Gesellschaft mit so viel Freiheit gesegnet, dass wir heute viel mehr Optionen als früher haben, uns mit unserer Umwelt in Beziehung zu setzen. Das trifft auch auf unser Verhältnis zu Tieren zu. Die Tatsache, dass wir so ambivalent Tieren gegenüber denken, fühlen und handeln, liegt an unseren sich widersprechenden Interessen und Wertvorstellungen.

Was genau meinen Sie damit?

Auf der einen Seite wollen wir eine emotionale Beziehung zu Tieren aufbauen. Wir freuen uns zum Beispiel über Kontakt mit Hunden und Katzen, nehmen diese Tiere als Freunde oder Familienmitglieder wahr. Auf der anderen Seite wollen wir als Gesellschaft Tiere aber auch für unsere Zwecke nutzen. Wenn Menschen Fleisch und tierische Produkte konsumieren, nehmen sie auch die Tötung der Tiere und meist auch die Haltung in Mastanlagen in Kauf. Dieser Widerspruch zwischen Streicheln und Schlachten sorgt auch für einen inneren Widerspruch.

Von tierlieben Schlachtern und dem Schicksal unserer Haustiere

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Ich habe viele Gespräche mit Schlachtern geführt, die von sich selbst sagten, dass sie tierlieb sind. Sie waren davon überzeugt, dass es in Ordnung ist, Tiere zu töten, um sie zu Nahrung zu verarbeiten, wenn sie vorher ein gutes Leben hatten. Früher galt diese Sichtweise fast unwidersprochen. Heute gibt es immer mehr Gegenstimmen, die sagen, dass das Töten eines Tieres nicht durch ein vermeintlich gutes Leben ausgeglichen werden kann – zumal auch die Haltungsbedingungen in der Landwirtschaft stark umstritten sind. Es ist Bewegung in die moralische Ordnung des Mensch-Tier-Verhältnisses gekommen.

Während wir also Schweine und Rinder zu Nahrung verarbeiten, behandeln wir Hunde und Katzen mitunter fast wie Menschen. Was entscheidet darüber, wie wir ein Tier behandeln?

Wie wir Tiere wahrnehmen, darüber entscheiden vor allem gesellschaftliche Konstrukte. Es dreht sich immer darum, in welchem Zeit-Raum-Kontext wir leben und welche Geschichten die Menschen sich über Tiere erzählen. Deshalb gibt es global betrachtet auch so unterschiedliche Formen der Mensch-Tier-Beziehung.

Welche Tiere in unserer gesellschaftlichen Wahrnehmung allerdings als liebenswert erscheinen und welche uns nutzen, das ist höchst variabel. Die Fähigkeiten der Tiere selbst spielen hier nicht unbedingt eine Rolle. Schweine sind etwa ähnlich interaktionsfähig wie Hunde und Katzen. Trotzdem werden sie gegessen, während Hunde meist behütet und beschützt werden.

Haben es Haustiere denn dann grundsätzlich besser als andere Tiere?

Wir personalisieren und objektifizieren Tiere gleichzeitig. Während wir Haustiere zunehmend als Subjekte und Individuen wahrnehmen, werden Nutztiere zu Sachwerten erklärt. Das heißt aber nicht, dass wir Haustiere automatisch gut behandeln. Viele Tierbesitzer wissen schlichtweg nicht, welche Bedürfnisse ihre Haustiere haben und wie diese erfüllt werden können. Auch Haustierhaltung ist in der Regel von menschlichen Interessen bestimmt.

Wie wir unser Mensch-Tier-Verhältnis überdenken

Woher kommt eigentlich der Anspruch des Menschen, über Leben und Tod von anderen Lebewesen entscheiden zu können?

Mit der Aufklärung verbreitete sich der Gedanke, dass der Mensch die Natur nicht nur beherrschen könne, sondern auch dürfe. Unser Umgang mit der Natur hat aber nicht nur Wohlstand geschaffen, sondern auch vielfache ökologische Krisen ausgelöst, etwa den Klimawandel oder das Artensterben.

Im Angesicht dieser Krisen ändern viele Menschen langsam ihre Haltung und verstehen sich etwa als Teil des globalen Ökosystems, das wir schützen müssen, um überleben zu können. Es geht aber nicht darum, ob wir die Natur beherrschen und umgestalten, sondern wie und mit welchen Folgen. Diese Frage ist von existentieller Bedeutung, denn unserer Antwort hängt unsere Art zu Leben und wahrscheinlich auch unser Überleben auf diesem Planeten ab.

Das Mensch-Tier-Verhältnis ist ein weitreichendes und komplexes Themenfeld. Welche Kernbotschaft wollen Sie mit Ihrem Buch senden?

Wir müssen unserem Verhältnis zu Tieren mehr Aufmerksamkeit schenken. Unsere widersprüchlichen Beziehungen zu Tieren führen immer öfter zu gesellschaftlichen Konflikten über die Deutungshoheit. Dürfen wir Fleisch essen, oder nicht? Sind Tiere jemand, oder etwas? Die meisten Menschen sind hier weiter unentschieden, quasi zwischen den Stühlen. Erst, wenn wir hier Stellung beziehen, können wir als Gesellschaft sinnvoll über die Frage diskutieren, wie die zukünftige Mensch-Tier-Beziehung aussehen soll.  Das ist auch die Hoffnung, die meinem Buch innewohnt: Der Start einer Debattenkultur über die komplexe Mensch-Tier-Beziehung.

Jetzt neigen Menschen tendenziell gerne zur Verdrängung, statt zur bewussten Konfrontation. Wie kann ich anfangen, mich aktiv mit meinem Verhältnis zu Tieren auseinanderzusetzen?

Ein erster Schritt kann es sein, die Perspektive bewusst zu wechseln und sein eigenes Verhalten kritisch zu hinterfragen. Wenn wir etwa das nächste Mal einkaufen gehen, können wir innehalten und überlegen, welche Wertvorstellungen unserem Verhalten innewohnen. Es geht mir darum, den möglichen Widerspruch zwischen Interessen und Idealen aufzudecken. Oft handeln Menschen auf eine Weise, die sie eigentlich gar nicht gutheißen. Oder wir können uns jedes Mal, wenn wir einem Tier begegnen, die Frage stellen: Ist mein Gegenüber nun jemand, oder etwas? Allein solche Fragen zeigen uns schon sehr gut, wo wir uns im weiten Raum der Mensch-Tier-Beziehungen bewegen.

 

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