Unser Kind war selbstbewusst und offen. Dennoch wurde es Opfer von Mobbing – eine Mutter erzählt

24.07.2023 13:49

Mit der Einschulung von Lukas beginnt ein Albtraum. Er wird in der Klasse ausgegrenzt, beleidigt und fertiggemacht. Viele Schulwechsel sind nötig, bis sich die Situation bessert. Aber das Mobbing hat bis heute Spuren hinterlassen, sagt seine Mutter Beate zur Nieden. 

Aufgeschrieben von Katharina Hoch

Am letzten Schultag der zweiten Klasse wurde mir mit einem Schlag bewusst, wie schlimm es ist. Und dass es nun wirklich an der Zeit ist, diesen Ort zu verlassen. Wir hatten uns für einen Schulwechsel entschieden und waren gerade dabei, die letzten Sachen von meinem Sohn auszuräumen. Als ich den Tornister öffnete, fand ich einen Zettel. Darauf stand: 'Fick deine Mutter'. Mit dem Stück Papier in der Hand saß ich da und fühlte wieder diese Ohnmacht. Ich fragte mich zum wiederholten Male: Wie konnte es so weit kommen? Und wieso haben die Lehrer nicht gesehen, was mit unserem Sohn passiert? 

Lukas*, der mittlerweile 16 Jahre alt ist, wurde viele Jahre in der Schule gemobbt. Wir haben als Familie eine sehr anstrengende Zeit hinter uns, die für immer Spuren hinterlassen hat. Wir alle sind durch die Erlebnisse gezeichnet. Wenn man anderen Menschen davon erzählt, gehen sie oft davon aus, dass unser Sohn bestimmt ein sehr schüchternes und unsicheres Kind war. Er deshalb Opfer von Mobbing wurde. Aber das ist falsch.  

Er war ein ganz offenes, fröhliches und neugieriges Kind. Und er war selbstbewusst und selbstsicher, fühlte sich wohl unter Gleichaltrigen. Im Kindergarten hatte er zu drei anderen Jungs eine enge Freundschaft aufgebaut. Niemals hätten wir damals gedacht, dass er einmal Probleme mit anderen Kindern bekommt. Dass er ausgegrenzt, beleidigt und auf diese Weise fertiggemacht wird. Heute weiß ich: Mobbing kann jedes Kind treffen, auch wenn es noch so selbstbewusst und resilient ist. Auf den Fotos der Kindergartenzeit sieht man sofort, wie gut es Lukas damals ging. Lege ich Fotos von der Schulzeit daneben, sehe ich ein anderes Kind. Ein in sich gekehrtes Kind, ein unsicheres Kind, ein unglückliches Kind. Das ist erschreckend. Und tut mir unglaublich weh.  

Lukas bekam immer öfter Wutanfälle

Ich kann mich noch gut an den ersten Schultag erinnern. Er hat sich so darauf gefreut. War stolz, jetzt ein Schulkind zu sein. Aber schon bald änderte sich die Stimmung. Er bekam immer mehr Wutanfälle. Die Lehrerin war überfordert, wusste nicht, wie sie damit umgehen soll. Schnell kam die Aussage: "Mit Ihrem Kind stimmt was nicht." Anstatt die wahre Ursache zu suchen, wählte sie den leichten Weg und schob die Schuld auf ihn – einen sechsjährigen Jungen. Einmal mussten wir ihn sogar abholen, weil er einen besonders starken Wutanfall hatte. Die Lehrer sperrten ihn in der Umkleidekabine der Turnhalle ein. Ich bin fassungslos, wie so etwas in der heutigen Zeit möglich ist.  

Mein Mann und ich wussten nicht, wo diese Wut plötzlich herkam. Wir konnten diese Gefühle vorerst nicht einordnen. Und wir fragten uns: Was ist mit unserem Kind passiert? Das müssen zwei verschiedene sein, dachten wir. Das Kind zu Hause ist neugierig und aufgeweckt. Das Kind, das in der Schule sitzt, ist aus Sicht der Lehrer verhaltensauffällig.  

Natürlich fragten wir ihn, was los sei. Und wie es ihm in der Schule so ginge. Immer häufiger erzählte er, dass es Konflikte mit anderen aus seiner Klasse gebe. Dass sie ihn ärgerten und teilweise auch körperlich angingen. Oft erzählte er aber einfach nichts. Vielleicht wollte er alles einfach verdrängen, vielleicht war das alles für ihn schon normal oder er schämte sich dafür.  

Ein Schlüsselerlebnis für uns als Eltern war eine Situation an einem Klettergerüst im Pausenhof. Lukas stand daneben, die anderen ließen ihn nicht mitspielen. Er erzählte uns, dass er eine Star-Wars-Karte bekommen würde, wenn er unten bliebe. Sie wollten ihn einfach nicht dabei haben. Dieses Gefühl von Ausgrenzung, das zerstört Stück für Stück das Selbstwertgefühl von Kindern. Keiner wollte sich nach der Schule mit ihm treffen, keiner lud ihn zum Geburtstag ein. Anfangs hatte er noch einen Freund in der Klasse, aber auch er wendete sich irgendwann ab. Unser Sohn war ganz allein. Er wurde zum Außenseiter.  

Kontakt zu den Eltern aufzunehmen verschlimmert das Ganze meist noch

Die körperlichen und verbalen Attacken gingen anfangs immer von einigen wenigen Kindern aus. Lukas wurde zum Beispiel mit dem Schwamm beworfen. Als "Popelboy" oder "Schwulette" bezeichnet. Dann gab es das sogenannte Seuchenspiel. Unser Sohn hatte die "Seuche" und die Kinder versuchten, sich gegenseitig gegen ihn zu schubsen, damit das andere Kind dann vermeintlich auch die "Seuche" hat. Ein Kind hat sich sogar mal Einmalhandschuhe angezogen, als sich unser Sohn an den Gruppentisch gesetzt hat. Es gab auch Beleidigungen gegen mich. Es fielen Sätze wie "Deine Mutter ist so fett, dass sie sogar bei Minecraft rund wäre". Sie sagten ihm, dass der Mülleimer sein Zuhause wäre und sein Schulbrot ein "Idiotensnack". Es gab auch Schläge, Tritte. 

Wenn man als Eltern solche Geschichten hört, dann ist der erste Impuls, Kontakt zu den Eltern dieser Kinder aufzunehmen. Aber das macht alles nur noch schlimmer. Die Kinder, die mobben, kommen oft aus Elternhäusern, in denen auch eine gewisse Form von Aggressivität als adäquates Durchsetzungsmittel herangezogen wird. Manchmal sind es Kinder, die emotional nicht so besonders viel Nestwärme erfahren. Man weiß ja, dass Mobbing eine Form von Machtmissbrauch ist. Und das bekommen viele dieser Kinder einfach von zu Hause mit. Ich denke, sie fühlen sich in den eigenen vier Wänden sehr klein und müssen sich deshalb woanders 'stark' machen. Der Großteil der Eltern von Mobbenden wird deshalb weder ein offenes Ohr haben, noch versuchen beim Kind zu bewirken, dass es damit aufhört. Im Gegenteil. Oft verstärkt es das Ganze noch.  

Das Schlimmste für mich war die Ohnmacht. Ich bin Juristin und erfahre in meinem Beruf immer wieder, dass ich etwas bewirken kann. Im Fall unseres Sohnes musste ich zum ersten Mal erleben, dass ich machtlos bin. Dass ich einem System ausgeliefert bin, dass das Mobbing meines Sohnes noch befeuert, in dem unsere Version der Ereignisse nicht zählt und uns nicht geglaubt wird. Mobbing beginnt meistens im Kleinen. Nicht öffentlich. Viele Lehrer und Lehrerinnen haben dafür keinen Blick.  

Die Lehrerin verwechselte Ursache und Folge: Unser Sohn werde gemobbt, weil er so austickt

Im Lehramtsstudium wird weder das Thema Mobbing ausführlich besprochen, noch der Pädagogik an sich viel Raum gegeben. Ein fataler Fehler, finde ich. Oft fällt den Lehrer und Lehrerinnen dann zuerst das veränderte Verhalten des Opfers auf. Und wenn ein Kind ständig laut wird und um sich schlägt, dann ist dieses Kind in den Augen der Lehrkräfte häufig der Schuldige. Die Mobbenden fühlen sich durch das Verhalten der Lehrer ermutigt und das Mobbing wird stärker. Bei den Lehrerinnen ist der Blick in der Regel da schon so verdreht, dass er oder sie gar nicht mehr erkennt, wo der Ursprung des Problems liegt. 

Auch die Lehrerin der ersten und zweiten Klasse erklärte uns, dass Lukas gemobbt wird, weil er oft so austickt. Dass aber die Wutanfälle bereits die Reaktion auf die ständigen physischen und psychischen Attacken der Mitschüler waren, merkte sie nicht. Ich weiß, dass das 'Wegsehen' meist dem stressigen und anspruchsvollen Berufsalltag geschuldet ist. Dennoch haben Lehrkräfte einfach die Verantwortung, solche Situationen zu erkennen. 

Ich würde jedem Lehrer, der den Verdacht hat, ein Kind könnte gemobbt werden, empfehlen, Situationen zu schaffen, in denen sich die Klasse unbeobachtet fühlt. Mal die Klasse auf dem Pausenhof beobachten oder das Klassenzimmer früher betreten als sonst. Oder sich Hilfe von einer Person holen, die in dem Bereich geschult ist. Unsere Rettung war am Ende eine Therapeutin, die das Verhalten unseres Sohnes als "Mobbingsyndrom" benannte, und eine Pädagogin, die das Verhalten unseres Sohnes richtig einordnete und der Lehrerin erklärte, wie sie damit umgehen soll.  

Aber bevor es dazu kam, standen noch mehrere Schulwechsel an. Bei einem blieb es leider nicht. 

Ist das Selbstwertgefühl eines Kindes zerstört ist, wird es schnell wieder zum Opfer

Der Wechsel nach der zweiten Klasse brachte zunächst eine Beruhigung, aber beim Wechsel auf die weiterführende Schule kam unser Sohn wieder mit Kindern aus der ersten Grundschule zusammen, und es begann alles von Neuem. Drei Schulwechsel waren nötig, bis unserem Sohn geholfen wurde. Denn wenn das Selbstwertgefühl eines Kindes erst einmal zerstört ist, wird es schnell wieder zum Opfer. Auch in anderen Gruppen. Lukas war nervös, strahlte Unsicherheit aus. Er kam als schwaches Kind in eine bestehende Gruppe. Und so begann das ganze Dilemma immer wieder von vorne. 

Rückblickend kann ich sagen, dass das Wichtigste in dieser Zeit der Rückhalt war, den er von uns bekommen hat. Auch wenn wir in Zweifel gerieten, haben wir zuletzt immer unserem Sohn vertraut und Sätzen wie "mit ihm stimmt was nicht" keinen Glauben geschenkt. Er wusste, dass er bei uns einen Ort hat, an dem er er selbst sein kann. An dem er sich wohl und geborgen fühlt. Diesen Ausgleich zur Schule zu schaffen, ist enorm wichtig. Und dem Kind das Gefühl zu geben, dass man das gemeinsam durchsteht. 

Manchmal frage ich mich, was gewesen wäre, wenn auch wir unseren Sohn als 'Problemkind' gesehen hätten und versucht hätten, die Fehler bei ihm zu finden. Hätte er die Schule irgendwann gemieden? Sich zu Hause immer mehr zurückgezogen? Und hätte er das überlebt? Im schlimmsten Fall nehmen sich Kinder wegen so etwas das Leben. Das ist schrecklich. Ich bin einfach nur froh, dass es unserem Sohn heute so gut geht. Dass er unter Gleichaltrigen inzwischen gut klarkommt. Und sogar Freundschaften geschlossen hat.  

Holt euch Hilfe bei Menschen, die sich mit Mobbing auskennen!

Zu verdanken haben wir das vor allem der Schule, auf die unser Sohn mitten im achten Schuljahr kam. Dort gab es ein sogenanntes Anti-Mobbing-Team. Aufgrund der Zusammenarbeit mit der von uns als Coach hinzugezogenen Pädagogin verstanden die Klassenlehrer schnell, wie es unserem Sohn ging und woher sein Ärger kam. Die Pädagogin hat sich lange mit den Lehrkräften besprochen und ihnen erklärt, warum er sich manchmal so 'komisch' verhält, dass das eben eine Folge von dem ist, was er erlebt hat. Dass er während der Schulzeit nie erfahren durfte, Teil einer Klassengemeinschaft zu sein.  

Sie hat es geschafft, den Lehrern und Lehrerinnen zu vermitteln, wie sie mit der Situation umgehen sollen und wie sie die Klasse als Gruppe unterstützen können. Allen Eltern, die in einer ähnlichen Situation mit ihrem Kind stecken wie wir damals, würde ich sehr ans Herz legen, sich schnell Hilfe bei Menschen zu holen, die sich mit Mobbing auskennen. Viele Schulen haben kein Fachpersonal in diesem Bereich. Dann kann man sich z. B. an Vereine wie das "Anti-Mobbing-Netzwerk" oder "Zeichen gegen Mobbing" wenden.  

Das Mobbing hat Narben hinterlassen. Bis heute. Unser Sohn hat immer noch Hemmungen, in Gruppen mit Gleichartigen zu gehen, die er nicht kennt. Aber mit jeder positiven Erfahrung wächst sein Vertrauen. Und davon gibt es inzwischen immer mehr. 

Mittlerweile spielt er Schlagzeug in einer Band und Skaterhockey in einer Mannschaft. Und in der Schule fühlt er sich auch wohl. Ich bin super stolz auf ihn. Ab und zu muss ich daran denken, wie ich damals mit dem Zettel in der Hand saß und sehr verzweifelt war. Das ist jetzt acht Jahre her. Es war ein langer, ein anstrengender Weg. Für uns alle. Aber es hat sich gelohnt, nicht aufzugeben.  

*Name wurde von der Redaktion geändert 

Quelle