WARUM WIR UNS VON UNSEREN ALTEN MUSTERN NUR SCHWER LÖSEN KÖNNEN…

19.02.2018 16:47

Eine grandiose Kurzgeschichte von Jorge Bucay, die uns helfen kann über unseren Schatten zu springen.

„Ich kann nicht“, sagte ich. „Ich kann es einfach nicht.“ „Bist du sicher?“ fragte er mich. „Ja, nichts täte ich lieber, als mich vor sie hinzustellen und ihr zu sagen, was ich fühle… Aber ich weiß, dass ich es nicht kann.“

Der Dicke setzte sich im Schneidersitz in einen dieser fürchterlichen blauen Polstersessel in seinem Sprechzimmer. Er lächelte, sah mir in die Augen, senkte die Stimmer wie immer, wenn er wollte, daß man ihm aufmerksam zuhörte, und sagte:

„Komm ich erzähl dir eine Geschichte.“ Und ohne ein Zeichen meiner Zustimmung abzuwarten, begann er zu erzählen.

Als ich ein kleiner Junge war, war ich vollkommen vom Zirkus fasziniert, und am meisten gefielen mir die Tiere. Vor allem der Elefant hatte es mir angetan wie ich später erfuhr, ist er das Lieblingstier vieler Kinder. Während der Zirkusvorstellung stellte das riesige Tier sein ungeheures Gewicht, seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur Schau. Nach der Vorstellung aber und auch in der Zeit bis kurz vor seinem Auftritt blieb der Elefant immer am Fuß an einen kleinen Pflock angekettet. Der Pflock war allerdings nichts weiter als ein winziges Stück Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde steckte. Und obwohl die Kette mächtig und schwer war, stand für mich ganz außer Zweifel, daß ein Tier, daß die Kraft hatte, einen Baum mitsamt der Wurzel auszureißen, sich mit Leichtigkeit von einem solchen Pflock befreien und fliehen konnte.

Dieses Rätsel beschäftigte mich bis heute. Was hält ihn zurück? Warum macht er sich nicht auf und davon?

Als Sechs- oder Siebenjähriger vertraute ich noch auf die Weisheit der Erwachsenen. Also fragte ich einen Lehrer, einen Vater oder Onkel nach dem Rätsel des Elefanten. Einer von ihnen erklärte mir, der Elefant mache sich nicht aus dem Staub, weil er dressiert sei. Meine nächste Frage lag auf der Hand: „Und wenn er dressiert ist, warum muß er dann noch angekettet werden?“

Ich erinnere mich nicht, je eine schlüssige Antwort darauf bekommen zu haben. Mit der Zeit vergaß ich das Rätsel um den angeketteten Elefanten und erinnerte mich nur dann wieder daran, wenn ich auf andere Menschen traf, die sich dieselbe Frage irgendwann auch schon einmal gestellt hatten. Vor einigen Jahren fand ich heraus, daß zu meinem Glück doch doch schon jemand weise genug gewesen war, die Antwort der Frage zu finden:

Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühester Kindheit an einen solchen Pflock gekettet ist.

Ich schloß die Augen und stellte mir den wehrlosen neugeborenen Elefanten am Pflock vor. Ich war mir sicher, daß er in diesem Moment schubst, zieht und schwitzt und sich zu befreien versucht. Und trotz aller Anstrengung gelingt es ihm nicht, weil der Pflock zu fest in der Eerde steckt.

Ich stellte mir vor, daß er erschöpft einschläft und es am nächsten Tag gleich wieder probiert, und am nächsten Tg wieder, und am nächsten… Bis eines Tages, eines für seine Zukunft verhängnisvollen Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt.

Dieser riesige, mächtige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen, flieht nicht, weil der ärmste glaubt, daß er es nicht kann.

Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt. Und das schlimme dabei ist, daß er diese Erinnerung nie wieder ernsthaft hinterfragt hat. Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe zu stellen.

„So ist es, Demian. Uns allen geht es ein bißchen so wie diesem Zirkuselefanten: Wir bewegen uns in dieser Welt, als wären wir hunderte an Hunderte von Pflöcken gekettet.

Wir glauben, einen ganzen Haufen Dinge nicht zu können, bloß weil wir sie ein einziges Mal, vor sehr langer Zeit damals, als wir noch klein waren, ausprobiert haben und gescheitert sind. Wir haben uns genauso verhalten wie der Elefant, und auch in unser Gedächtnis hat sich die Botschaft eingebrannt: Ich kann das nicht, ich werde es niemals können. Mit dieser Botschaft, der Botschaft, daß wir machtlos sind, sind wir groß geworden, und seitdem haben wir niemals mehr versucht, uns von unserem Pflock loszureißen. Manchmal, wenn wir die Fußfesseln wieder spüren und mit den Ketten klirren, gerät unser Pflock in den Blick, und wir denken: Ich kann nicht, und werde es niemals können.“

„Genau dasselbe hast auch du erlebt, Demien. Dein Leben ist von der Erinnerung an einen Demien geprägt, den es gar nicht mehr gibt und der nicht konnte. Der einzige Weg herauszufinden, ob du etwas kannst oder nicht, ist, es auszuprobieren, und zwar mit vollem Einsatz. Aus ganzem Herzen!“

Bucay, Jorge (2013):  Komm ich erzähl dir eine Geschichte. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. S.7-10)

 

Quelle