Menschen, die dem Tod nur knapp entronnen sind, berichten häufig von Nahtoderfahrungen. Forschende haben nun Hinweise darauf entdeckt, was im Kopf von Sterbenden geschieht.
Wenn Du stirbst, zieht Dein Leben an Dir vorbei. Am Ende eines dunklen Tunnels erscheint ein sehr helles Licht, auf das Du Dich zubewegst. Du verlässt den eigenen Körper und betrachtest Dich von einem anderen Ort im Raum aus. Diese Erfahrungen haben Menschen gemacht, die dem Tod sehr nahe waren. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Betroffenen jung oder alt sind, oder religiös oder atheistisch, wie der Heidelberger Psychiater Michael Schröter-Kunhardt, Vorsitzender der deutschen Sektion der "International Association for Near-Death Studies", 2003 dem "Deutschen Ärzteblatt" berichtete. Auch Nationalität, Ausbildung oder Geschlecht beeinflussten Auftreten und Ausgestaltung der Erfahrungen nicht.
Berichte über Nahtoderfahrungen haben große Ähnlichkeiten
Schröter-Kunhardt hat mehr als 230 Fälle von Nahtoderfahrungen untersucht. Das Bemerkenswerte an den NDEs (near death experiences) sei, dass alle Menschen annähernd dieselben Bilder sähen und von ähnlichen Erfahrungen erzählten, stellte er fest. Demnach schilderten 89 Prozent ein "Gefühl der Ruhe, des Friedens oder des Wohlbefindens", 77 Prozent beschrieben ein "helles Licht". Das Gefühl, außerhalb des Körpers zu sein und diesen – zum Beispiel von oben – zu sehen, hätten 61 Prozent während ihrer NDE gehabt. Vom Tunnelphänomen berichteten dem Psychiater zufolge 47 Prozent der Patienten, 30 Prozent sahen Ereignisse ihrer Vergangenheit wie einen Film vor sich ablaufen.
Eine kleine Studie, in der die Hirnaktivität von sterbenden Menschen gemessen wurde, könnte nun dazu beitragen, das Phänomen der Nahtoderfahrungen besser zu verstehen und zu erklären. Sie wirft zudem ein neues Licht auf die überraschend ungeklärte Frage, wie wir sterben, sagte Jimo Borjigin von der Universität Michigan, die an den Untersuchungen beteiligt war.
Für die Studie, die am Montag in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" veröffentlicht wurde, hatten Borjigin und ihr Team vier Personen, die im Koma lagen, untersucht. Die Patienten waren alle an lebenserhaltende Apparaturen angeschlossen, trugen EEG-Kappen und hatten keinerlei Überlebenschance. Die Kappen überwachten kontinuierlich die elektrischen Signale ihrer Gehirne bevor und nachdem die Ärzte die Beatmungsgeräte entfernten, während des letzten messbaren Herzschlages und bis zum Ende aller Hirnaktivitäten.
Sekunden nach dem Entfernen der Beatmungsgeräte sei in den Gehirnen von zwei Patienten die neuronale Aktivität in hochfrequenten Mustern, den so genannten Gamma-Wellen, drastisch angestiegen, schreibt das "Science Magazine" über die Studienergebnisse. Dieser Aktivitätsausbruch habe auch dann noch angehalten, als das Herz nicht mehr schlug. Bei einem der Patienten sei die Produktion dieser Gamma-Wellen in den Momenten vor dem Tod auf das Dreihundertfache der vorherigen Werte gestiegen. Sie hätten einen höheren Stand erreicht, als er in normalen Gehirnen bei Menschen mit vollem Bewusstsein zu finden sei.
In anderen Studien sei dasselbe Muster festgestellt worden, wenn ein gesunder Mensch aktiv eine Erinnerung abruft, lernt oder träumt. Einige Neurowissenschaftler hätten diese Ausschläge mit dem Bewusstsein in Verbindung gebracht.
"Wirklich wichtig für die Bewusstseinsforschung"
Gamma-Wellen können ein Signal dafür sein, dass verschiedene Hirnregionen zusammenarbeiten, um unterschiedliche Sinneseindrücke zu einer bewussten Wahrnehmung eines Objekts zu kombinieren – zum Beispiel den Anblick, den Geruch und das Geräusch eines Autos, erklärte Ajmal Zemmar, Neurochirurg an der Universität von Louisville, dem Magazin. Wie das Gehirn das mache, sei "eines der größten Rätsel der Neurowissenschaften". Aber die Beobachtung derselben Gamma-Wellen bei Sterbenden deute darauf hin, dass es einen biologischen Mechanismus gibt, der dafür sorgt, dass das Gehirn in den letzten Lebensmomenten erinnerungswürdige Ereignisse wieder abspielt. Zemmar hatte demnach zuvor bereits ähnliche Gamma-Wellen bei einer Person entdeckt, die an einem Herzinfarkt gestorben war, während ihr Gehirn auf Krampfanfälle überwacht wurde.
Borjigins Team entdeckte bei seinen Gehirnuntersuchungen auch eine erhöhte elektrische Aktivität in der so genannten temporo-parieto-occipitalen Verbindung, von der man annimmt, dass sie am Bewusstsein beteiligt ist und während Träumen, Anfällen und außerkörperlichen Halluzinationen aktiviert wird. Die Forscherin glaubt, dass der Ausbruch der Hirnaktivität Teil eines Überlebensmodus ist, in den das Organ übergeht, wenn es keinen Sauerstoff mehr hat. Studien an Tieren, die den Hirntod erlitten haben, hätten gezeigt, dass das Gehirn zahlreiche Signalmoleküle freisetzt und ungewöhnliche Gehirnwellenmuster erzeugt, um sich selbst wiederzubeleben, auch wenn es die äußeren Anzeichen des Bewusstseins ausschaltet: "Es schließt die Tür zur Außenwelt und kümmert sich um die inneren Angelegenheiten, weil das Haus brennt."
"Diese Arbeit ist wirklich wichtig für das Forschungsfeld und die Bewusstseinsforschung im Allgemeinen", kommentierte die Biomedizinerin Charlotte Martial von der Universität Lüttich die neue Ministudie. Dass nur zwei der vier von Borjigin untersuchten Patienten die Gamma-Aktivität aufwiesen, überrasche sie nicht, versicherte die Wissenschaftlerin, die selbst NDEs untersucht, dem "Science Magazine". Schließlich berichteten auch nicht alle Menschen, die einen Nahtod überlebt haben, von Erinnerungen oder außerkörperlichen Erfahrungen.
Die Autorinnen und Autoren selbst warnten dennoch aufgrund der geringen Stichprobengröße ihrer Studie davor, daraus generelle Aussagen abzuleiten. Sie wiesen zudem darauf hin, dass es nicht möglich sei, zwischen ihren Untersuchungsergebnisse und den oben beschriebenen NDEs einen Kausalzusammenhang herzustellen, da die vier Patienten ja verstorben seien, und nicht mehr nach ihren Erfahrungen beim Sterben befragt werden konnten.
"Wir sind nicht in der Lage, Korrelationen zwischen den beobachteten neuronalen Signaturen des Bewusstseins und einer entsprechenden Erfahrung bei denselben Patienten in dieser Studie herzustellen", schrieben die Forschenden. "Die beobachteten Ergebnisse sind jedoch auf jeden Fall spannend und bieten einen neuen Rahmen für unser Verständnis des verborgenen Bewusstseins beim sterbenden Menschen.
Borjigin hofft, bei der Erforschung der Hirnaktivität von Sterbenden auch mit anderen medizinischen Zentren zusammenarbeiten zu können und so ihre Ergebnisse zu erhärten. Antworten darauf zu finden, wie der Sterbeprozess abläuft, wäre entscheidend, sagte Neurochirug Zemmar dem "Science Magazine". Denn "der Tod ist eine Art Mysterium – wir wissen nicht wirklich, was er ist".