Wie mir der Schulsport jahrzehntelang die Lust an der Bewegung verdorben hat

22.10.2020 14:08

Ist es wirklich sinnvoll, Kinder im Sportunterricht an Schulen zum Geräteturnen zu nötigen? Sollte man nicht vielmehr die Basics – Muskeln, Ausdauer und vor allem den Spaß an Bewegung – trainieren, statt unsportliche Schüler permanent scheitern zu lassen?

Es gibt Kinder, die super zeichnen können, und solche, die trotz großer Mühe nur krakelige Linien aufs Papier bekommen. Es gibt Kinder, die Mathe als das einzig logische Schulfach betrachten, und solche, die auf all die Zahlen starren und schier verzweifeln. Es gibt Kinder, die Sprachen lieben und über Nacht Vokabeln lernen können und solche, die auch nach Jahren noch das Lesen eines Buchs als Zumutung betrachten. Weil wir eben alle verschieden sind und alle verschiedene Dinge gut und weniger gut können. Genauso, davon bin ich überzegt, gibt es Menschen, die für sportliche Höchstleistungen gemacht sind – und andere. Mich, zum Beispiel.

Dabei hatten meine Eltern immer drauf geachtet, dass wir Kinder nicht den ganzen Tag drinnen herumhängen. Mit meiner Mama, übrigens sehr fit, machte ich schon als kleines Kind ihr Turnprogramm mit – zumindest in Ansätzen. Wir gingen regelmäßig große Runden spazieren, tobten im Freibad, machten Fahrradtouren. Und trotzdem war ich einfach nie besonders gut in allem, was mit Sport zu tun hatte.

Nicht jeder ist von Natur aus Supersportler

Was meinem Verhältnis zu körperlicher Betätigung dann den Rest gab, war der Schulsport. Ich weiß nicht, wie es bei anderen war, aber in meiner Schulzeit gab es die vier, fünf Cracks, die meist nebenher auch in verschiedenen Sportarten in leistungsbezogenen Vereinen erfolgreich waren, die sich kaum anstrengen mussten und immer super Noten bekamen. Und dann gab es die zwanzig anderen, die litten.

Es lief immer ungefähr so ab: Zu Beginn eines Halbjahres zeigte uns der Sportlehrer eine Übung, von der ich wusste, dass ich sie nicht schaffe. Ich hatte zu wenig Körperspannung, zu wenig Ausdauer, zu wenige Muskeln und zu viel Angst. Er zwang uns, sie zu probieren. Ich scheiterte mehr oder weniger kläglich, fand es mehr oder weniger peinlich. Aber ich scheiterte. Immer. Und dann bestand der Rest des Halbjahres daraus, den Cracks dabei zuzusehen, wie sie immer schwierigere Varianten der jeweiligen Übung lernten, scheinbar mühelos, während ich auch nach sechs Monaten noch nicht die Basicübung konnte. Weil ich außer drei Wischi-Waschi-Sätzen, was ich besser machen müsste, auch keine wirklich hilfreichen Ansagen bekam. Im Rückblick hätten die vermutlich lauten müssen: "Kind, du hast keine Körperspannung, mach mal Sit-ups" oder "Wir machen jetzt mal ein paar Hantelübungen". 

Natürlich kann man darüber diskutieren, ob es Job der Schulen ist, unsportlichen Kindern eine gewisse Grundsportlichkeit beizubringen oder ob Sportunterricht nicht, genau wie Chemie oder Französisch, ein Fach ist, in dem es eben um Leistung geht. Andererseits ist, sobald in irgendeiner Studie die Ausfallquote von Sportstunden auftaucht, der Grund für die größte Empörung immer, dass gerade die unsportlichen Kinder den Unterricht doch am nötigsten hätten. Aber es ist doch so: Gerade die unsportlichen Kinder profitieren vom Schulsport, so wie er ist, null. Und ich meine: NULL. Er tut nichts dafür, sie sportlicher zu machen oder zumindest ihre Lust an der Bewegung zu wecken und zu fördern. Würde man das wirklich wollen, müsste man das komplett anders aufziehen.

Man müsste Sportunterricht völlig anders gestalten

Es war für mich eine kleine Offenbarung, als ich in der Oberstufe zum ersten Mal selber auswählen konnte, welche Art Sport ich in einem Halbjahr machen wollte. Natürlich habe ich Tanzen gewählt, vermutlich die erste Wahl aller Unsportlichen, ABER erstens ist Tanzen weit anstrengender, als es aussieht und zweitens hatte ich zum ersten Mal keine Angst mehr vorm Betreten der Sporthalle, sondern sogar Spaß darin. Ich strengte mich an. Ich bewegte mich gerne. Ich wollte gut sein.

In der Oberstufe hatte ich auch einen Sportlehrer, der uns zum Aufwärmen nicht nur zehn Minuten im Kreis laufen ließ, sondern ein durchdachtes kleines Sportprogramm mit uns abzog und erklärte, warum wir das machen und wozu welche Übung gut ist. Er war auch derjenige, der nach einem dieser vermaledeiten Dauerläufe, bei denen ich bestenfalls als Vorletzte ins Ziel kam, sagte: "Du hast nicht aufgegeben, du hast dich angestrengt. Das ist super" und mir eine gute Note gab. So kann es eben auch gehen, und dann geht man ein bisschen stolz und motiviert nach Hause und macht ab da jeden Morgen freiwillig ein paar Sit-Ups und probiert, zu joggen.

Wenn es darum geht, ganzen Generationen von jungen Leuten Lust auf Bewegung zu machen und ihnen nahezubringen, wie wichtig das für die Gesundheit ist, dann bringt es herzlich wenig, sie zehn Jahre lang permanent scheitern zu lassen und dann noch mit schlechten Noten zu bestrafen. Als ich mit Ende 20 beschloss, dass ich jobtechnisch zu viel vor dem Computer sitze und es vielleicht eine gute Idee wäre, tatsächlich mal etwas für meine armen Muskeln zu tun, rollte ich zuhause die Yogamatte aus und turnte ein paar Youtube-Videos nach.

Hallo Sportlehrer, ihr seid doch besser als Youtube?!

Und schon nach einer Woche merkte ich, wie ich besser wurde, wie ich eine bessere Haltung und stärkere Muskeln bekam (das geht vermutlich nur so schnell, wenn man bei Null anfängt, seid gewarnt). Ich lernte von lächelnden Frauen in stylishen türkisfarbenen Outfits mehr als in dreizehn Jahren Sportunterricht. Ich lernte, welche Muskeln ich gerade trainiere und wofür das gut ist. Und manchmal dachte ich: Das kann doch nicht sein. Dass ich mir jetzt von Youtube erklären lasse, wie ich einigermaßen fit werde. Von Menschen, die vermutlich nicht jahrelang Sport und Pädagogik studiert haben. Aber die, auch um ihren Job zu behalten, gelernt haben, wie man Leute motiviert und bei der Stange hält.

Wenn das nächste Mal jemand sagt, wie wichtig der Sportunterricht an Schulen ist, dann denkt mal daran zurück, was euch dieser Unterricht tatsächlich gebracht hat. Ich hätte ganz bestimmt auf 90 Prozent der Stunden verzichten können und wäre damit vermutlich besser gefahren als damit, jede Woche 90 Minuten lang zu zittern, zu scheitern und mir mit jeder Stunde sicherer zu werden, dass ich für Sport einfach nicht gemacht bin. Denn auch wenn nicht jeder das Zeug zum Leistungssportler hat – jeder kann lernen, dass Bewegung gut für die Gesundheit ist und es für jeden einen Weg gibt, zumindest ein Minimum davon in sein Leben zu integrieren. Und dass das nichts mit Stufenbarren oder 10-Kilometer-Läufen zu tun haben muss. Das habe ich im Sportunterricht aber nicht gelernt. Schade eigentlich.

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