Sahra Wagenknecht möchte mit ihrer neuen Partei vor allem im Osten Wähler finden, glauben viele. Dabei spricht manches dafür, dass sie in Wahrheit auf den Westen setzt − mit einer bestimmten Melodie.
Sahra Wagenknecht guckte ausgesprochen zufrieden: "Das Bündnis, das noch nicht einmal eine Woche alt ist, ist jetzt auch im rheinland-pfälzischen Landtag vertreten", verkündete die Parteigründerin in dieser Woche in Mainz. Da hatte ihr neues Bündnis "BSW" gerade einen Coup gelandet: Mit Andreas Hartenfels wechselte ein früherer Grüner zum Wagenknecht-Bündnis. Hartenfels war im Oktober 2022 wegen der Russland-Ukraine-Politik der Grünen unter Protest aus seiner Partei ausgetreten, und saß seither als Fraktionsloser im Mainzer Landtag. Ausgerechnet in Rheinland-Pfalz hält damit das BSW nun ein Parlamentsmandat, nach den Stadtstaaten Berlin und Hamburg das erste in einem Flächenland.
Ein Zufall ist das nicht: Das Feindbild "Ampel" ist eine der großen emotionalen Angriffspunkte, mit denen Sahra Wagenknecht und ihre neue Partei auf Stimmenfang bei den Unzufriedenen und Enttäuschten gehen – und in Mainz regiert Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) bereits seit 2016 mit Grünen und FDP in einer "Ampel", die sogar die Blaupause für die Berliner Regierung war.
Auch die Landeshauptstadt Mainz selbst wird seit 2009 von einer Ampel-Konstellation im Stadtrat dominiert, der politischen Kultur in Mainz hat das zuletzt nicht gutgetan: Die Grünen gelten in Mainz, ihrer einstigen Hochburg, inzwischen als ideologie-getriebene Hardliner, die wider alle Vernunft Autos aus der Stadt aussperren, Handel und Gastronomie schaden und ihre Klientelpolitik vorantreiben. Statt einem Grünen wählten die Mainzer im Februar 2023 lieber einen parteilosen Polit-Quereinsteiger mit Macher-Image zum Oberbürgermeister, ein wahres Beben in der zuvor 70 Jahre lang SPD-regierten Landeshauptstadt.
Das BSW und seine Strukturen im Westen
Ampel-Frust, Grünen-Hass – der Coup von Mainz zeigt, wie sehr Wagenknecht auch auf den aktuellen Politikfrust in den westlichen Bundesländern schielt. Hier haben die Grünen eine lange Regierungsgeschichte, hier lösen sie am meisten Wut und Widerstand gegen "Wokeness" und vermeintliche Bevormundung aus. Kürzlich holte Wagenknecht den früheren Düsseldorfer SPD-Oberbürgermeister Thomas Geisel ins BSW, auch andernorts werden im Eiltempo neue Strukturen hochgezogen: In Bayern baut der Ex-Linke Klaus Ernst – einst Mitbegründer der "Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ WASG) – eifrig an einer Basis für das neue Bündnis, Umfragen bescheinigen dem BWS hier ein Wählerpotenzial von rund 14 Prozent.
Schatzmeister und finanzieller Strippenzieher für die neue Partei ist zudem ein Unternehmer aus Baden-Württemberg: Durch Millionär Ralph Suikat hatte der zuerst gegründete Verein "Bündnis Sahra Wagenknecht" seinen Sitz in Karlsruhe. Wird also der Westen mit seinen großen, bevölkerungsreichen Flächenländern womöglich zur eigentlichen Bastion der Partei, nicht der Osten?
"Wir haben im Südwesten historisch immer eine Radikalisierungstendenz gehabt", sagt der Politikwissenschaftler Karl Rudolf Korte, im Gespräch mit dem stern. Rechtsextreme Parteien wie die Republikaner oder die NPD hatten hier ihre Hochburgen, in der Coronazeit waren es die Zentren der oft esoterisch angehauchten Impfgegner. Auch Wagenknecht ziele auf Unzufriedenheiten und Distanz zum etablierten System, das Antrittsmoment sei "in diesem Jahr der Unzufriedenheiten gut gewählt", glaubt Korte: "Wir haben eine Gesprächsstörung zwischen Regierung und Regierten", analysiert er – viele Bürger fühlten sich von der Politik nicht mehr gehört, sähen ihre Probleme nicht mehr gelöst. Die BSW-Gründung sei auch "Ausfluss dieser Gesprächsstörung."
Bei der "Operation West" sollen denn auch Feindbilder helfen, die besonders hier im Westen verfangen: Die Ampel-Regierung – und die Grünen. Gegen die zog die frühere Linken-Ikone Wagenknecht schon zu Felde, bevor sich ihre neue Partei überhaupt abzeichnete. Jetzt wirft Wagenknecht den Grünen vor, mit ihrer "Überheblichkeit, Unfähigkeit und Arroganz" würden sie die Menschen zum Protest auf die Straße treiben. Die Außenpolitik der Grünen geißelt sie als besonders "heuchlerisch", wirft der Außenministerin "moralische Verlogenheit" in Sachen Waffenverkäufe vor – und lässt nicht per Zufall Schlagworte wie "Ramstein" fallen.
Sahra Wagenknecht und die Friedensbewegten
Tief im (Süd-)Westen der Republik trifft Wagenknecht damit einen Nerv: "Ich komme aus der Friedens- und Umweltbewegung", sagt der Ex-Grüne Hartenfels im Gespräch mit dem stern. Dass er auf dem Bundesparteitag der Grünen im Oktober 2022 habe erleben müssen, wie eine grüne Außenministerin Waffenlieferungen und Russland-Sanktionen verteidigt habe, das sei für ihn "einfach unerträglich" gewesen. Baerbock wolle "Russland zerstören", giftet Hartenfels, schon ganz im Wagenknecht-Duktus. Statt billiges Gas von Putin zu kaufen, ruiniere die Ampel lieber Deutschland, souffliert auch Wagenknecht, als gebe es den Krieg in der Ukraine nicht. Friedensbewegter Ex-Grüner trifft Putin-Versteherin. Und beide verstehen sich prächtig.
Es ist der Sound der alten westdeutschen Friedensbewegung, auf dem Wagenknecht zu spielen sucht: "Frieden schaffen ohne Waffen", jener Slogan der 1980er Jahre von den Großdemos gegen Atomraketen und Nato-Doppelbeschluss, als man in Ramstein für Abrüstung demonstrierte, und sich Ostern zu den endlosen Friedensmärschen trafen, er erlebt jetzt eine verzerrte Wiederauferstehung. In Frankfurt organisiert bis heute der frühere hessische Linken-Landtagsabgeordnete Willi van Ooyen Friedensmärsche und Osterkundgebungen, inzwischen heißt es auch hier mit Blick auf die Ukraine: "Die Waffen nieder!" Gefordert wird auch der Stopp des Bundeswehr-Ausrüstungsprogramms und die vermeintliche "Kriegstreiber-Politik" der Grünen – genau wie bei Wagenknecht.
Zu deren "Sound of Frieden" gehört die Forderung, man müsse doch "endlich" mal Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg führen, Waffen lösten das Problem nicht. Dass es Russland ist, das keinerlei Verhandlungsbereitschaft zeigt, dass Russland die Ukraine überfiel und einen Vernichtungsfeldzug gegen das Nachbarland führt – all das wird beflissentlich ignoriert. Dass mit der Ukraine ein Demokratie-orientierter Staat überrollt würde, nimmt man in Kauf. "Wagenknecht ist näher an Moskau als an Washington", sagt Korte: "Das Anti-Imperialistische ist ausgeprägt bei ihr – und was sie anbietet, ist links-autoritär."
Im Ahrtal sitzt die Enttäuschung tief
Die Parteigründerin ist aus ihrem Wohnort im Saarland angereist, wo die US-Airbase Ramstein vor den Toren liegt – und wo ihr Ehemann Oskar Lafontaine jahrzehntelang geradezu märchenhafte Wahlerfolge für die Linke erzielte. Der einstige "Napoleon von der Saar" genoss im kleinen Saarland fast schon Verehrungsstatus, nun wird hier auch dem neuen Bündnis BSW ein Wählerpotenzial bis weit in die Mitte hinein zugetraut. Und es ist auch kein Zufall, dass mit Alexander Ulrich ein Ex-Linker aus Kaiserslautern jetzt den BSW in Rheinland-Pfalz aufbauen soll: Die Südpfalz gehört zu den am meisten abgehängten Regionen in Deutschland.
Umfragen des SWR bescheinigten der Ampel-Regierung Dreyers gerade ein "historisches Zustimmungstief", 55 Prozent sagten gar, sie sähen "in den Verhältnissen in Rheinland-Pfalz Anlass zur Beunruhigung". Da spiegelt sich nicht nur der Frust über die Bewältigung der Flutkatastrophe im Ahrtal, mit dem nach wie vor schleppenden Wiederaufbau und der Weigerung der Landesspitze, Verantwortung für die gemachten Fehler in der Flutnacht zu übernehmen. Im Ahrtal sitzen Enttäuschung und Wut so tief, dass die Sympathien für die AfD rasant gestiegen sind.
Es ist auch der Frust über die schlechte Flüchtlingspolitik der Ampel in Berlin wie in Mainz, unter der die Gemeinden ächzen: Bundesweit mahnen seit Monaten Kommunen Abhilfe in Sachen Flüchtlingsunterbringung an. Die Reaktionen der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD)? Dürftig. Wagenknecht bedient diese Unzufriedenheit, wenn sie fordert, Migration zu begrenzen und "Vernunft" zurück in die Politik zu holen.
Dazu noch die in weiten Teilen der Bevölkerung beliebte Abneigung gegen Doppelpunkt und Genderstern, das Wettern gegen die "Cancel Culture" - und das Bedienen des Narrativs, es gebe inzwischen "eine bedenkliche Art, mit Protesten umzugehen". Da werde gleich unterstellt, Proteste wie die der Landwirte seien unterwandert von rechts, in Wirklichkeit aber wehrten sich "nur ganz anständige Bürger", schimpft Wagenknecht. Damit trifft sie das Gefühl vieler, die gerade im Südwesten den Querdenkern in der Corona-Pandemie starken Zulauf verschafften, sich als Impfgegner ausgegrenzt fühlten und sich in einer Art neuem Anti-Establishment-Kampf sahen.
Auch Hartenfels – Impfgegner zu Corona-Zeiten – spricht von "Millionen Menschen", die die Grünen in der Coronazeit diskriminiert hätten, Im Name des BWS will er jetzt im Mainzer Landtag ein Enquete-Kommission zur "Aufarbeitung" der Corona-Maßnahmen fordern – dass die AfD seit Monaten die gleiche Forderung erhebt, stört ihn nicht. Man werde doch heute in Deutschland "auf Gesinnung abgeprüft", klagt Hartenfels, daraus entstehe "ein autoritärer Staatsstil" – auch das grenzt hart an AfD-Sprech. Von denen will sich Hartenfels indes scharf abgrenzen: "Ich bin froh, dass es eine Alternative gibt."
"Ein weiteres Erstarken der AfD kann von uns aufgehalten werden kann", behauptet Alexander Ulrich selbstbewusst – man zielt auf die Potenziale der bürgerlichen Gesellschaft, die Protest wählen, aber nicht bei Extremisten landen wollen. Und so nimmt das neue Bündnis denn nicht nur Europawahl und die Landtagswahl in Rheinland-Pfalz 2026 fest in den Fokus, schon zur Kommunalwahl am 9. Juni dieses Jahres will man antreten, wenigstens in einzelnen Kommunen. Sie bekomme gerade auch aus ländlichen Regionen "viele Rückmeldungen" von denen, die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen, aber nicht AfD wählen wollten, betonte Wagenknecht zum Schluss noch. Das zielt beileibe nicht nur auf den Osten.