Seit mehr als zwei Wochen tobt die Diskussion um Rammstein. "Rufmord" rufen die einen, "keine Show für Täter" die anderen. Als Fan fällt es schwer, sich zu positionieren, ohne sich auf die eine oder andere Seite zu stellen.
"Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit."
Rammstein-Texte wie dieser wirken zur Zeit noch bedeutungsschwangerer als sonst. Seit mehr als zwei Wochen tobt die Diskussion um die Band und darum, was an den Vorwürfen insbesondere gegen Till Lindemann dran ist. Und wie es in heutigen Zeit so üblich ist, haben sich schnell zwei Lager gebildet:
Diejenigen, die wegen der Anschuldigungen die Band am liebsten sofort verbieten würden. Und die, die Rammstein als Halbgötter verehren, die angeblich noch nie in ihrem (Band-)Leben einen Fehler begangen haben. Zwischen diesen Polen scheint es keinen Standpunkt zu geben.
Diskussion um Rammstein: Ich hänge als Fan zwischen den Stühlen
Ich bin seit Jahren Rammstein-Fan und verfolge die Diskussion, seit die ersten Posts auf Twitter herumgingen. Und noch immer fühle ich mich, als ob ich zwischen den Stühlen hänge.
So viel sei gesagt: Ich glaube den Frauen, die über Social Media-Kanäle oder Medien ihre Erfahrungen geteilt haben. Ich habe keinen Grund, es nicht zu tun. Trotzdem versuche ich seit nun mehr als zwei Wochen, eine differenzierte Position einzunehmen, um mich weder von der einen noch von der anderen Seite vereinnahmen zu lassen.
Die Kollegen Julia Lorenz und Dirk Peitz von der "Zeit" schrieben in der vergangenen Woche: "Bedrückend wirkt im Fall Till Lindemann der Verdacht, er habe tatsächlich vollzogen, was er als Künstler in seinen Werken angedeutet, wenn nicht angekündigt hat." Das Spielen mit Tabus gehört zur Identität von Rammstein. Für seine Kritiker sind die Texte, die Lindemann in den vergangenen Jahrzehnten geschrieben hat, ein Schuldeingeständnis. Jemand, der nicht auch in der Realität mit Themen wie Nekrophilie, Kannibalismus oder sadistischem Sex sympathisiere, könne ja nicht solche Texte als Kunstfigur schreiben. An ihnen sehe man ja, was für eine Person Lindemann in Wirklichkeit sei, so die Meinung.
Interessanterweise sind diejenigen, die so etwas am lautesten schreien, auch die, die keinerlei Verbindung zu der Band haben. Ihre Musik nicht hören, sich nicht mit den Texten oder ihrem Kontext auseinandersetzen und für die es allgemein kein Verlust wäre, sollte Rammstein von heute auf morgen nicht mehr existieren. Canceln lässt sich am leichtesten, was einem selbst nichts bedeutet.
Fans verteidigen die Band nicht weniger undifferenziert
Dagegen laufen Fans Sturm, die die Band nicht weniger undifferenziert in Schutz nehmen. Das könne ja alles gar nicht sein. Tausendfach werden Bilder aus den vergangenen Jahren gepostet, die Lindemann bei Treffen mit Fans im Rollstuhl und kleinen Kindern in Rammstein-T-Shirts oder bei Streichen mit seinen Band-Kollegen zeigt. Subtext: DAS ist der echte Lindemann. Die martialische Gestalt auf der Bühne – alles nur Schauspielerei, Kunst, Kunstfigur.
Doch vielen reicht diese Verteidigung nicht. Sie gehen zum Angriff über. Die Frauen, die es gewagt haben, ihr Idol anzugehen, die offen sprechen über mutmaßliche Verfehlungen, sie hätten sich diese Geschichten ausgedacht, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Es ist eine immer wiederkehrende Unterstellung, die man schon öfter in Fällen gehört hat, in denen es im weitesten Sinne um Macht und Machtmissbrauch geht.
Schlimmer sind eigentlich nur noch die, die nun versuchen, die Diskussion in ihren Kulturkampf einzuweben. Rammstein hören, das steht für sie plötzlich auf einer Stufe mit ungeimpft sein, Fleisch essen und sich gegen eine Wärmepumpe zu stellen. Dabei interessiert sie die eigentliche Diskussion, die geführt werden muss, gar nicht. Till Lindemann ist für sie ein Symbol für den Kampf gegen die vermeintliche "Wokeness" geworden. Es wird einem wahrlich schlecht, wenn man Social Media-User sieht, die sich nun Seite an Seite mit Lindemann wähnen und vor einigen Monaten noch vor Wut geplatzt sind, als sich die (männlichen) Bandmitglieder auf einer Bühne in Russland geküsst haben, um mit der Geste der weit verbreiteten Homophobie im Land einen symbolischen Tritt zu verpassen.
Was, wenn das alles stimmt?
Ich bin mir sicher, dass viele Fans sich schon bei dem Gedanken erwischt haben: "Was, wenn das alles stimmt?" Als Anhänger, der viel mit einer Band verbindet, sich in ihrer Musik wiederfindet, ist diese Möglichkeit unerträglich, weil sie das Zwingende bedeuten würde: Die Band wäre nicht mehr möglich. Bei anderen Gruppen könnte man dies vielleicht noch verkraften, weil es dann doch irgendwo noch jemanden geben wird, den man als Ersatz heranziehen kann. Bei Rammstein aber ist das anders.
Wer Rammstein live sieht, hat das Gefühl, Zeuge von etwas Historischem zu werden. Diese Auftritte, mehr Musical als Konzert, mit all ihren Lichtern, Kostümen und der Pyrotechnik ist unverwechselbar, unersetzbar, einzigartig. Rammstein ist ein Mythos und die Konzerte sind die heiligen Messen ihrer Gefolgschaft.
Wir sollten versuchen, in der Diskussion wieder einen Mittelweg zu finden
Wie soll man also als Fan damit umgehen, dass bei diesen heiligen Messen möglicherweise Dinge vorgefallen sind, die verachtenswert sind? Vielleicht sollte man sich die Freiheit herausnehmen, sich erst einmal gar nicht zu positionieren. Denn auch das geht.
Wenn Protestgruppen wie am Wochenende vor den Rammstein-Konzerten in München versuchen, Fans in Verantwortung zu ziehen und ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen, ist dies unfair. Noch unfairer ist es, zu versuchen, die Frauen, denen möglicherweise traumatische Dinge widerfahren sind, mundtot zu machen.
Wir sollten versuchen, wieder einen Mittelweg zu finden. Manche Diskussionen brauchen Zeit. Ich bin mir sicher, viele Fans fühlen zur Zeit wie ich: Sie sind zerrissen zwischen dem eigenen Gewissen und der Hoffnung, dass sich das Thema zwischen Band und den Betroffenen klärt – wie auch immer. Bis dahin sollten wir es akzeptieren, wenn jemand erklärt: "Ich kann diese Band nicht mehr hören." Ebenso wenn man jemand sagt: "Ich möchte die Band nicht aufgeben – das bedeutet aber nicht, dass mir die Betroffenen egal sind."