Seit dem Geständnis des Musikers Gil Ofarim fragen sich viele, warum er so lange an seinen Behauptungen festhielt. Was treibt Menschen dazu an, sich in Unwahrheiten zu verstricken? Antworten dazu von Hans Stoffels, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Berlin.
Herr Professor Stoffels, sind Menschen, die Lügen verbreiten, krank?
Nein, nicht zwangsläufig. Lügen gehören zum normalen Leben. Es wäre unmenschlich, immer stur bei der Wahrheit zu bleiben.
Aber manche Lügen gehören nicht mehr zum normalen Leben.
Es gibt das Phänomen des krankhaften Lügens, das hat der Psychiater Anton Delbrück 1891 erstmals beschrieben. In der Fachwelt heißt es „Pseudologia Fantastica“. Aber es gibt auf der anderen Seite auch das berechnende Lügen zum Beispiel um eines Vorteils willen. Zwischen beiden Arten des Lügens, dem krankhaften Lügen und dem berechnenden Lügen, gibt es alle Schattierungen.
Als Psychiater beschäftigen Sie sich neben Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen vor allem mit krankhaften Lügen. Wann kommen die Betroffenen zu Ihnen?
Es ist immer etwas Besonderes, wenn sich ein krankhafter Lügner, also ein sogenannter Pseudologe, in psychotherapeutische Behandlung begibt. Schwindler kommen in der Regel nicht in meine Praxis, weil sie einen Leidensdruck haben, sondern weil sie aufgeflogen sind oder sich in einem Netz aus Unwahrheiten verstrickt haben.
Warum lügen sie?
Das pathologische Lügen ist immer eine Flucht aus einer als schmerzhaft erlebten Realität in eine Fantasie. Indem sie lügen, ziehen sich Pseudologen aus den Umständen heraus, die sie nicht oder nur schwer bewältigen können.
Also lügen Menschen, um eine Welt zu verlassen, die sie nicht ertragen?
So ist es. Die reale Welt ist schmerzhaft, der wollen sie entfliehen. Stellen Sie sich ein kleines Kind vor, das sich von seinen Eltern schlecht behandelt fühlt. Das liegt abends im Bett und dann kommt ihm die Idee: Ach, ich bin vielleicht gar nicht das Kind meiner Eltern! Und schon fantasiert es sich eine andere Familie zusammen. Das ist noch keine Lüge, das ist eine Fantasie, aber sie zeigt, wie Menschen vor einer Realität fliehen, in der man Entbehrungen erfahren hat, in der man nicht anerkannt wurde.
Nun werden viele von uns in der Kindheit vernachlässigt, und trotzdem erfinden wir später keine Geschichten, die uns und anderen Schaden zufügen. Sind krankhafte Lügnerinnen und Lügner quasi die Kreativen unter den vernachlässigten Kindern?
Durchaus. Ich verweise auf den Schriftsteller Karl May, der wegen Betrugs verurteilt wurde. Als junger Mann hatte er verschiedene Identitäten angenommen, hat sich mal als Postbote, mal als Polizist ausgegeben. Später, als er sein kreatives Potenzial nicht mehr ins Lügen gesteckt hat, wurde Karl May zum großen Romanautor.
Ein Fall beschäftigt uns gerade besonders: Der Musiker Gil Ofarim hat am Dienstag vor dem Leipziger Landgericht gestanden, die Unwahrheit gesagt zu haben. Er hatte einem Hotelmanager antisemitische Diskriminierung vorgeworfen. Warum hält ein Mensch zwei Jahre an einer falschen Behauptung fest, die früher oder später auffliegen muss?
Als Psychotherapeut würde ich in so einem Fall erst einmal prüfen, was der Anlass des Schwindels ist. Vielleicht geht es um eine Kränkung, um das Gefühl: Ich werde nicht respektiert. Vielleicht soll ihm seine erfundene Geschichte Anerkennung und Sympathie sichern.
In dem Video, in dem sich Gil Ofarim als Opfer zu erkennen gibt, beschwert er sich darüber, dass eine Person nach der anderen aus der Schlange vorm Check-in vorgezogen worden sei. Offensichtlich fühlte er sich missachtet.
Ich habe beobachtet, dass sich Lügner heute gerne als Opfer inszenieren. Früher haben sie sich als Adlige ausgegeben oder später dann als Fabrikbesitzer. Seit längerer Zeit aber ist die Erfindung des Opfer-Seins, die eine große Suggestivkraft hat – gerade für den, der zum Schwindeln neigt. Manchmal stelle ich sogar fest, dass sich Patienten danach sehnen, ein Trauma-Opfer zu sein, weil sie dann auf Zuwendung hoffen können.
Was lesen Sie in dieser Entwicklung?
Das ist eine soziologische Fragestellung, die dringend einer Abklärung bedarf: Woran liegt es, dass die früheren Heldennarrationen, wie ich sie nenne, abgelöst werden durch Opfernarrationen? Ich erinnere mich an den Fall einer Rollstuhlfahrerin, die überfallen worden war, jemand hatte ihr ein Hakenkreuz in die Wange geritzt. Das hat zu großer Empörung geführt. Später hat man festgestellt, dass sie sich diese Verletzung selbst beigebracht hatte. Durch ihr Opferdasein aber hatte sie zunächst außerordentliche Anerkennung gefunden.
Auch Gil Ofarim hat außerordentliche Anerkennung erhalten mit seiner Behauptung, antisemitischer Diskriminierung ausgesetzt gewesen zu sein.
Ja, er hat, wie berichtet wird, weltweit Aufmerksamkeit bekommen. Durch keine andere Behauptung hätte er so viel Zuwendung und Anerkennung und Aufmerksamkeit erfahren als wie durch diese Erzählung.
Was haben pathologische Lügnerinnen und Lügner für eine Persönlichkeit?
In der Regel haben sie ein labiles Selbstbewusstsein, sie besitzen keine Ich-Stärke, kein Selbstvertrauen. Aus dem Gefühl heraus, nichts wert zu sein, nicht anerkannt zu werden, entsteht der Wunsch nach einer anderen Wirklichkeit. Sie verspüren die Verlockung, sich selbst neu zu erfinden. In den 1920er Jahren hatte ein Züricher Psychiater einen krankhaften Lügner in Behandlung und hat ihn in einer seiner Vorlesungen vorgestellt. Dieser Mann hatte sich als Doktor der Philosophie und Doktor der Rechtswissenschaften ausgegeben, außerdem hatte er behauptet, Fliegeroffizier gewesen zu sein. In der Vorlesung gab er zerknirscht zu, er sei ein Lügner gewesen. Er habe keinen Doktor gemacht, er sei auch nie Offizier gewesen, sondern nur einfacher Infanterist. Im Weiteren erzählte er von den Entbehrungen im Schützengraben, bis alle ganz gerührt waren. Später stellt sich heraus: Er war nie im Krieg gewesen. Er hat also von der Helden- in die Opfernarration gewechselt und ist zunächst auf diese Weise allen Vorwürfen entgangen.
Ich muss an Claas Relotius denken, einen Journalisten, der beim "Spiegel" im großen Stil Geschichten erfunden hat. Er hat seine Chefs, die Leserinnen und Leser offensichtlich auch berührt.
Im Sinne der Selbsterfahrung würde es sich lohnen, seine Geschichten noch einmal zu lesen, denn sie haben uns angesprochen. Claas Relotius wurde für seine Beiträge mit Preisen ausgezeichnet, und sie sind ausgerechnet bei einer Zeitung erschienen, die Wert darauflegt, dass sie nur mit Fakten arbeitet.
Sie meinen, wir spiegeln uns als Gesellschaft in den Geschichten der Lügenden?
Ja, wir schauen in einen Spiegel, genau. Auch im Fall Ofarim müssten sich die Menschen, die ihm geglaubt haben, fragen: Warum sind wir so schnell dieser Geschichte gefolgt? Haben wir Gil Ofarim geglaubt, weil sein Narrativ unserem Weltbild entspricht oder unseren momentanen Interessen? Warum sind wir nicht skeptisch gewesen? Diese selbstkritischen Fragen müssen sich jetzt viele stellen, nach meinem Eindruck unterbleibt das.
Wenn das Selbstwertgefühl der Lügenden so porös ist – können sie dann überhaupt aus ihrem Lügenmuster aussteigen und geheilt werden?
Psychotherapie kann eine Persönlichkeit nicht grundsätzlich verändern. Aber man kann mit dem Betroffenen über seine Persönlichkeit sprechen und schauen, wie man auf neue Weise mit den problematischen Anteilen seiner Persönlichkeit umgehen kann. Und ich verweise immer darauf, dass pathologische Lügner ein erstaunliches kreatives Potenzial haben, das im besten Fall auf eine andere Art und Weise ausgelebt werden sollte. Wenn der Betroffene in der Psychotherapie Aufmerksamkeit erfährt aufgrund seiner Persönlichkeit, dann kann er das kreative Potenzial vielleicht anders nutzen.
Ihre Anekdote vom Schweizer Kollegen macht diesbezüglich aber keinen Mut: Der krankhafte Lügner hatte die Aufmerksamkeit des gesamten Hörsaals und ist trotzdem von einer Lüge in die nächste geschlittert.
Ja, man muss genau hinschauen: Ist das vielleicht eine neue Lügengeschichte, eine neue Fantasie? Ist der Patient wirklich ein kranker Lügner, oder gibt er nur vor, dass er krank ist? Will er sich durch die neue Selbstdefinition als krank retten und entschuldigen?
Lügen Männer häufiger als Frauen?
Das kann ich nicht sagen, das müsste eine quantitative Untersuchung klären. Ich stelle allerdings fest, dass in meiner psychotherapeutischen Praxis mehr Männer als Frauen kommen, die krankhaft lügen.
Warum halten Menschen zwei Jahre an einer Lüge fest, wissend, dass sie eines Tages auffliegen muss?
Der krankhafte Lügner besitzt eine große Suggestivkraft. Er kann andere Menschen beeinflussen, aber auch sich selbst. Er glaubt sich seine Geschichte. Es ist eine Mischung aus Betrug und Selbstbetrug. Ein pseudologischer Schwindler kann über einen langen Zeitraum selbst an seine Lügen glauben, und dadurch wirkt er dann auch so überzeugend.
Wie können wir mit Lügnerinnen und Lügnern im Alltag einen guten Umgang finden?
Ich finde, wir stehen in der Pflicht, dem anderen erst einmal zu glauben und ihm Vertrauen zu schenken. Ich mache das auch so. Dennoch wir sollten uns die Freiheit nicht nehmen lassen, das Gesagte in Frage stellen zu dürfen. Aber erst einmal ist eine vertrauensvolle Zuwendung zu unseren Mitmenschen erforderlich, auch wenn der Verdacht besteht, dass sie lügen. Ich sage immer: Kritisch glauben und empathisch zweifeln.
Und was denken Sie daran ?