Manchmal werden Menschen mit einem körperlichen Merkmal geboren, das sie so sehr von anderen Menschen abhebt, dass sie es niemals verstecken können. Unsere Gesellschaft geht selten freundlich mit denen um, die sie als eine Abweichung von der gewohnten Norm sieht. Oftmals ist die beste Zuflucht für die sogenannten „Freaks“ eine Gruppe ebenfalls Ausgestoßener.
Jemand, der ganz bestimmt das Beste daraus gemacht hat, was die Natur ihr mitzugeben beschloss, war Josephine Myrtle Corbin, die 1868 in Lincoln County, Tennessee (USA), geboren wurde.
Myrtle war das siebte gemeinsame Kind von Nancy und William Corbin. Nach ihrer Geburt wiesen Ärzte immer wieder darauf hin, dass ihre Eltern einander zwar auffallend ähnlich sahen, aber nicht miteinander verwandt waren. Kein Wunder, dass sie meinten, dies extra betonen zu müssen, denn Myrtle wurde zwar gesund und kräftig geboren, hatte aber vier Beine.
Was völlig unmöglich klingt, kommt tatsächlich hin und wieder vor: Myrtle wurde mit einem sogenannten Dipygus oder Doppelsteiß geboren, einem sehr seltenen Phänomen. Dabei hat der betroffene Mensch zwei Unterleiber, inklusive Reproduktionsorganen und Beinen. Man nimmt an, dass dies passieren kann, wenn sich ein Zwilling im Mutterleib teilweise um den anderen herum entwickelt. Myrtles zusätzliches Paar Beine war kleiner als das ihrer äußeren. Sie konnte alle ihre vier Beine bewegen, die inneren waren aber zu schwach, um sie eigenständig tragen zu können.
Auf welchem Wege Myrtle schließlich zum Zirkus kam, ist nicht überliefert, aber im Alter von 13 Jahren schloss sie sich als „Das vierbeinige Mädchen“ einer der fahrenden „Sideshows“ an, die zu ihrer Zeit sehr beliebt waren. Bei diesen „Seitenattraktionen“ des Karnevals wurden die sogenannten „Freaks“ ausgestellt – die körperlich oder geistig behinderten Menschen, die sonst keine Arbeit fanden und die niemand haben wollte. Hier konnte man gegen ein paar Münzen Eintritt die dramatisch inszenierten Gestalten bestaunen, die sonst so sorgsam aus der Öffentlichkeit ferngehalten wurden.
Für die Darsteller der Sideshows bedeutete ihre Arbeit zwar, buchstäblich wie ein Tier im Zoo vorgeführt zu werden, es war aber auch ihre oft einzige Möglichkeit, sich selbst zu ernähren und unter Gleichen akzeptiert zu leben. Zudem konnten sie sich mit Selbstbewusstsein durch die Welt zu bewegen – schließlich waren sie respektierte Unternehmer und verdienten dabei oftmals sehr gut. Wenn man sie sowieso ihr Leben lang anstarren würde, dann konnten sie davon auch profitieren.
Myrtle war als das „vierbeinige Mädchen“ ausgesprochen erfolgreich und wurde schnell im ganzen Land berühmt. Zeitgenossen beschreiben sie als freundlich, sehr intelligent und von optimistischem Gemüt. Zudem war sie überaus hübsch und hatte viele Verehrer – und als sie 19 Jahre alt war, heiratete sie mit James Clinton Bicknell sogar einen davon.
Als sie ein Jahr nach der Hochzeit zum ersten Mal schwanger wurde, entdeckte ihr Arzt, was nicht einmal in der Zirkusshow gezeigt wurde: Myrtle hatte zwei vollständige, miteinander verwachsene Unterleibe – komplett mit doppeltem Uterus und doppelter Vagina.
Im Laufe der Jahre bekam sie vier Töchter und einen Sohn und lebte ein erstaunlich unspektakuläres Leben, bevor sie im Alter von 60 Jahren verstarb. Bei ihrem Begräbnis wurde ihr Sarg mit Zement übergossen und ihre Familie stand so lange Wache an ihrem Grab, bis dieser vollständig getrocknet war, bevor das Grab mit Erde gefüllt wurde. Damit wollten sie sicherstellen, dass Grabräuber keine Chance hatten, Myrtles Leichnam zu stehlen – denn die Zeiten, in denen ihr Körper zur Unterhaltung anderer ausgestellt werden konnte, waren ein für alle Male vorbei.
Sie hatte ein erfülltes Leben, Menschen, die sie liebten, und hat Geschichte geschrieben. Myrtle hat wirklich dafür gesorgt, dass sie sich vor niemandem verstecken musste.
Und was denken Sie daran ?