Eigentlich hatten sich die Bestände der Grauwale im Ostpazifik seit dem Ende des Walfangs erholt. Doch seit 2019 kommt es zu einem mysteriösen Massensterben der Tiere. Forschende aus den USA glauben, die Ursache dafür gefunden zu haben
Grauwale sind äußerst mobile Tiere: In den Wintermonaten paaren sie sich in den warmen Gewässern vor der mexikanischen Halbinsel Baja California, im Sommer ziehen sie zur Nahrungssuche über 10.000 Kilometer nordwärts in die Arktis – nur um im nächsten Winter zur Geburt ihrer Kälber wieder nach Baja California zurückzukehren. Auf ihrer Rundreise entlang der Westküste Nordamerikas sind die bis zu 15 Meter langen und bis zu 40 Tonnen schweren Tiere eigentlich nicht aufzuhalten: Seit dem Ende des kommerziellen Walfangs haben sich die Bestände des Grauwals (Eschrichtius robustus) im Nordostpazifik erholt. Doch seit vier Jahren beobachten Forscherinnen und Forscher Rätselhaftes. Entlang der Wanderroute von Baja California bis in die Arktis werden seit 2019 ungewöhnlich viele tote Grauwale an Land gespült. Manche von ihnen sind ausgemergelt, andere weisen keine auffälligen äußeren Merkmale auf.
Seither rätselt die Wissenschaft über die Gründe des Massensterbens, vermutete beispielsweise Kollisionen mit Schiffen oder Angriffe von Killerwalen als Ursache für die vielen plötzlichen Todesfälle. Da die gestrandeten Wale jedoch kaum Verletzungen aufweisen, gehen Forschende aus den USA nun davon aus, dass die Ursache für das rätselhafte Walsterben am nördlichsten Punkt der Reiseroute der Tiere zu finden ist: in der Arktis. In einer im Wissenschaftsmagazin "Science" veröffentlichten Studie zeigen sie, dass das Abschmelzen des arktischen Eises und der damit einhergehende Rückgang der Flohkrebse mit den Bestandsschwankungen der Wale zusammenhängen. Möglicherweise finden die Wale an ihrem Futterhotspot schlicht nicht mehr genug zu fressen.
Schon zweimal hatte es seit dem Ende des kommerziellen Walfangs ein bis dato unerklärliches Walsterben gegeben: In den Jahren 1987 bis 1989 und 1999 bis 2000 verloren die Grauwale – ähnlich wie jetzt – jeweils 15 bis 25 Prozent ihrer Gesamtpopulation. In ihrer aktuellen Studie untersuchten die Forschenden deshalb die Bestände der Grauwale im östlichen Nordpazifik und ihre Strandungen an der Küste der USA seit Ende der 1960er beziehungsweise Anfang der 1970er Jahre. Auch die körperliche Verfassung und die Geburtenrate der Wale wurden berücksichtigt.
In der Arktis müssen die Grauwale die Nahrung für das ganze Jahr anfressen
Diese Veränderungen wurden dann mit der eisbedeckten Fläche in der Arktis und der Biomasse der dort lebenden Flohkrebse verglichen. Das Ergebnis: Immer dann, wenn die Eisfläche in der Arktis zunächst schmolz und dann wieder zunahm und gleichzeitig die Biomasse der Flohkrebse stark abnahm, kam es zu den drei großen Walsterben. "Das deutet darauf hin, dass auch mobile und langlebige Arten empfindlich auf dynamische und sich verändernde Bedingungen reagieren, wenn sich die Arktis erwärmt", schreiben die Forschenden.
Durch das Abschmelzen des arktischen Eises infolge des Klimawandels vergrößerte sich zunächst das Gebiet, in dem Grauwale nach Nahrung suchen können. In den letzten Jahrzehnten wuchsen die Bestände deshalb zunächst, 2016 wurde die Population auf rund 27.000 Tiere geschätzt. Langfristig ist das Abschmelzen des Eises für sie jedoch fatal. Denn anders als andere Walarten suchen Grauwale ihre Beute nicht im offenen Meer, sondern tauchen auf den Meeresgrund hinab, um dort Flohkrebse aus Schlamm und Sediment zu filtern. Diese bodenbewohnenden Krebse ernähren sich wiederum von Algen, die unter der Eisdecke wachsen und nach dem Absterben auf den Meeresboden sinken. Geht die Eisdecke zurück, wachsen weniger Algen – und mit den Flohkrebsen stirbt die wichtigste Beute der Grauwale.
Das ist besonders dramatisch, weil Grauwale acht Monate lang fasten und sich nur in den Sommermonaten in der Arktis den Bauch vollschlagen. Dort müssen sie sich die nötigen Energiereserven für die Tausende Kilometer lange Wanderung, die Paarung und die Geburt des Nachwuchses anfressen.
Rückgang der Walpopulation erwartet
Langfristig kann das durch das Abschmelzen des Meereises vergrößerte Nahrungssuchgebiet das verringerte Angebot nicht ausgleichen. Das Walsterben war daher in jenen Jahren besonders dramatisch, in denen die Biomasse der Krebse bereits abgenommen hatte, die Eisfläche aber wieder zunahm. Der frei gewordene Platz der Flohkrebse wurde dann zwar durch andere Krebse eingenommen, diese haben aber einen geringeren Lipidgehalt und liefern den Walen weniger Energie.
Warum das aktuelle Walsterben deutlich länger andauert als in der Vergangenheit, darüber können die Forschenden nur spekulieren. Das Massensterben hat sich inzwischen zwar verlangsamt, doch die Bestände gehen weiter zurück. Fakt ist: Die Arktis erwärmt sich durch den Klimawandel stärker als andere Regionen, irgendwann könnte sie im Sommer sogar eisfrei bleiben. Und das führt zu einer Besiedlung mit weniger nahrhaften Beutetieren.
Dass die Grauwale ganz aussterben, glauben die Forschenden trotzdem nicht. Bis zu einem gewissen Grad könnten sich die Tiere an die neue Situation anpassen – so wie sie es in den vergangenen Zehntausenden von Jahren taten, in denen sie Eiszeiten, Wärmeperioden und nicht zuletzt die Jagd durch den Menschen überdauerten. Allerdings dürften sie anfälliger für Umweltveränderungen werden. Im Ostpazifik der Zukunft werden also wohl deutlich weniger Grauwale schwimmen als heute.
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